Großer Bruder sein. Gisela Sachs

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Großer Bruder sein - Gisela Sachs

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Aber das weiß außer der Familie niemand. Christian droht manchmal, das Geheimnis zu verraten, immer dann, wenn einer der seltenen Fälle eintritt und er von ihr ausgeschimpft wird. Christians Mutter ist eine Frohnatur, sie singt und trällert wie eine Lerche, vom frühen Morgen bis in den späten Abend. Sie ist auch eine begabte Tänzerin. In jungen Jahren hatte sie sogar eine Goldmedaille im Solotanz errungen. Christian ist sehr stolz auf seine schöne Mama.

      Marie Schneider hatte sich die Busreise auf die Insel Krk zum 30. Geburtstag gewünscht. Sie mag gerne mit anderen Menschen reisen und die jugoslawische Landschaft hatte sie schon immer interessiert. Die Familie wird viele Ausflüge machen, an verschiedenen Stränden rasten, Bauwerke ansehen, Museen besichtigen, neue Freunde finden vielleicht. Marie Schneider ist eine aufgeschlossene Person. Sie hat Freunde in der ganzen Welt.

      Das ganze Jahr über hat Marie Bildbände und Reiseführer von Kroatien studiert. Und auch Christian und sein Vater sind schon sehr gespannt auf das Land und die Menschen dort.

      In den letzten Jahren war die Familie mit dem Zug in den Urlaub gefahren.

      Die Zugreisen hatten Christian immer gut gefallen, sie waren sehr lustig. Es waren meist Kinder in den Abteilen, mit denen er sich die Zeit vertreiben konnte, einmal sogar zwei Jungs in seinem Alter. Gerne hätte Christian seinen Freund Davide dabei gehabt, aber das geht leider nicht. Seine Erdgeschossgroßmutter hat am Abreisetag Geburtstag. Den Siebzigsten.

       5. Kapitel

      Christian wäre viel lieber mit dem Auto gereist, weil Kroatien doch sehr weit weg ist und weil er dann mehr Gepäck hätte mitnehmen können. Sein eigenes Boot-Set zum Beispiel. Oder seinen Polizei-Überwachungs-Truck. Auch die Inliner und das Skateboard hätte er gerne mitgenommen. Die Federballschläger. Mehr Bücher.

      »Man kann nicht alles haben, Chrissie«, meint sein Vater bei der Diskussion über das Urlaubsgepäck. »Das ist im Leben nun einmal so.«

      Christian motzt ein bisschen herum, wie immer, wenn ihm etwas verboten wird, und bringt beleidigt das Skateboard und die Inliner in die Garage zurück. Den heiß ersehnten Polizei-Überwachungs-Truck, den er am Vorabend von den Eltern geschenkt bekommen hatte, schiebt er schweren Herzens wieder unter sein Bett und holt stattdessen seine verstaubten Schwimmflossen hervor.

      Er entfernt die Wollmäuse und stopft die Flossen in seinen Rucksack: zu den Badeschlappen, seiner neuen schwarzen Badehose mit den drei weißen Streifen, der Taucherbrille, der Wasserspritzpistole und den restlichen Süßigkeiten vom letzten Osterfest.

      In den Rucksack kommen noch: sein geliebtes Kakerlaken-Poker-Spiel, zwei Tischtennisschläger, ein 6er Set gelber Tischtennisbälle, seine sonnengelbe Taschenlampe und zwei seiner unzähligen Piratenbücher. Und ganz unten im Rucksack schlummert Judy, sein zerkuscheltes braunes Plüschäffchen, das nur noch ein Auge hat. Seine Mama hatte ihm Judy zum ersten Geburtstag geschenkt. Und Christian verreist nie ohne Judy. Aber das weiß außer der Familie niemand.

       6. Kapitel

      Christian joggt die gesamte Strecke von der Schule bis nach Hause, ohne eine Pause einzulegen. Er ist ziemlich erschöpft, als er in der Vogelsangstraße Nummer eins ankommt. Seine Haare sind klatschnass geschwitzt, das Gesicht rot wie eine reife Tomate und er schnauft wie eine alte Dampflok, die mit zehn Waggons einen Berg hinaufkeucht.

      Christian nimmt seinen Schulrucksack von den Schultern, zieht ein paar zerknüllte Papiertaschentücher zwischen seinen Büchern hervor und wischt sich die Schweißperlen von der Stirn. Dann fährt er sich mit gespreizten Fingern durch die dunkelblonden Haare und stöhnt: »Durst! Mann oh Mann, was habe ich einen Durst!« Christian sagt es im gleichen Tonfall wie sein Vater, wenn er abends vom Feld heimkommt, was die Mutter immer sehr amüsiert. Die Schneiders sind eine fröhliche Familie.

      Im zweiten Stock des Backsteinhauses geht ein Fenster auf. Frau Müller schüttelt ihren Badezimmerläufer aus. Frau Müller schüttelt immer irgendetwas aus irgendeinem ihrer Fenster. Aber in Wirklichkeit putzt sie gar nicht, sie ist nur neugierig, meint Christian.

      »Du bist schon da, Chrissie?«, flötet Frau Müller zuckersüß. »Du bist aber früh dran heute, Chrissie!«

      »Guten Tag, Frau Müller«, antwortet Christian artig, aber ohne zum Fenster hochzuschauen.

      »Du bist doch nicht etwa krank, Chrissie?«

      »Deine Haare sind ja ganz nass geschwitzt, Chrissie!«

      »Du hast doch nicht etwa Fieber?«

      Christian gibt keine Antwort und beachtet Frau Müller auch nicht weiter. Er mag die Mieterin seiner Eltern nicht. Immer hat Frau Müller irgendwelche Fragen an ihn. Und immer ganz viele auf einmal.

      »Wo gehst du hin, Chrissie?«

      »Wann kommst du wieder, Chrissie?«

      »Ist die Kinderkirche schon aus, Chrissie?«

      »Du hast doch nicht etwa den Kommunionsunterricht geschwänzt, Chrissie?!«

      »Deine Schnürsenkel sind auf, mein Junge!«

      »Merkst du das denn nicht?«

      »Du wirst darüber stolpern, mein Junge.«

      Christian mag es nicht leiden, wenn Frau Müller ‚mein Junge’ zu ihm sagt. Er verspürt dann immer ein unangenehmes Kribbeln im Bauch. Und sein Hals wird eng. Christian wird wütend, wenn Frau Müller ihn so viel fragt.

      »Dabei geht es Frau Müller doch gar nichts an, wo ich hingehe und wann ich heimkomme und ob ich spät dran bin oder früh, und ob meine Schnürsenkel offen sind oder nicht«, beschwert sich Christian bei seiner Mutter. »Und zudem bin ich nicht ihr Junge!«

      »Sie ist eine alte Frau, Chrissie.

      »Na und! Wenn sie alt ist, muss sie mich trotzdem nicht ausfragen.«

      »Ach Chrissie. Mit alten Menschen muss man Nachsicht haben.«

      Manchmal äfft Christian Frau Müller nach. Er zieht dann die Augenbrauen nach oben, reißt die Augen weit auf, wackelt mit dem Kopf und verstellt seine Stimme so in etwa wie die Hexe bei Hänsel und Gretel, als sie bemerkt hatte, wie die Kinder die Lebkuchen vom Knusperhäuschen gegessen haben.

      Christian streckt seinen gekrümmten Zeigefinger hoch in die Luft und krächzt.

      »Du bist schon da, Chrissie? Du bist heute aber früh dran, mein Junge.«

      »Du hast doch wohl den Kommunionsunterricht nicht geschwänzt, Chrissie.

      »Wo gehst du denn hin, Chrissie?«

      »Du bist heute aber spät dran, Chrissie!«

      »Ist die Kinderkirche schon aus, Chrissie?«

      »Was gibt’s denn bei euch heute zum Essen, Chrissie?«

      »Es riecht nach Fisch!«

      »Deine Schnürsenkel sind ja schon wieder offen. Merkst du das denn nicht? Du wirst darüber stolpern, mein Junge!«

      Aber für dieses Verhalten gibt es Fernsehverbot. Und weil

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