Großer Bruder sein. Gisela Sachs
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7. Kapitel
Im Schaufenster des Blumenladens hängt ein Plakat.
‚Wir machen Urlaub vom 30. Juli bis 30. August. Ihre Familie Schneider’.
Christian steht davor und grinst. Die Leinwand für das Plakat hatte er vor vielen Wochen schon bemalt. Und heute ist es endlich soweit. Christian führt zum zweiten Mal an diesem Tag seinen Indianerfreudentanz auf. Er hüpft in die Luft, erst mit dem rechten Bein, dann mit dem linken Bein. Er dreht sich dabei im Kreis wie Rumpelstilzchen und trommelt mit beiden Händen auf seinen Mund, ruft laut: »Uuurlauuub. Uuurlauuub. Uuurlauuub.«
Christian brüllt so laut, dass Frau Müller vor Schreck den Läufer aus dem Fenster fallen lässt. Sie schaut dem Läufer hinterher, bis er auf dem Boden gelandet ist. Und als Christian in Frau Müllers Gesicht sieht, bekommt er einen Lachanfall. Frau Müller sieht wie eine verdutzte Eule aus.
Wenn Christian einmal richtig lacht, dann hört er so schnell nicht auf damit. Er hält sich mit beiden Händen den Bauch fest und lacht, bis ihm die Tränen übers Gesicht laufen.
»Das ist doch eine Unverschämtheit!«, keucht Frau Müller entrüstet.
»Mich auszulachen!«
»Wo gibt’s das denn?«
»Keinen Respekt haben die jungen Leute mehr vor den Alten!«
»Und überhaupt, so ein Geschrei zu machen!«
»Und das am hellen Tag!«
»Wo gibt’s das denn?«
»Schäm’ dich, Christian Schneider!«
Ihr eiskalter Eulenblick durchbohrt Christian.
»Das werde ich deinen Eltern erzählen, Christian Schneider. Darauf kannst du dich verlassen!«
Frau Müller sieht Christian so grimmig an wie der Wolf das Rotkäppchen, bevor er es gefressen hat. Dann klatscht sie das Fenster so heftig zu, dass Christian sich die Hände vors Gesicht hält, weil er einen Glasscherbenregen befürchtet. Er schüttelt den Kopf, murmelt »Blöde Müllerkuh!« und wendet sich wieder dem Plakat zu.
Die Sonne lacht ihm entgegen. Und Christian lacht zurück. Er sieht das Meer vor sich, Segelschiffe, große und kleine Boote, kleine und große Menschen in Badekleidung und Taucheranzügen, Sandburgen, Seepferdchen, Muscheln und viele bunte Fische. Auch Pinguine. Obwohl es in Kroatien am Strand natürlich keine Pinguine gibt. Aber Pinguine sind Christians Lieblingstiere. Und er malt sie auf alle Bilder, auch auf die Weihnachtsbilder, die er jedes Jahr für Oma und Opa anfertigt. Die Pinguine tragen dann eben schneebedeckte Zipfelmützen, rote Schals und auf den Flossen leuchten winzigkleine goldene Glitzersterne.
Christian ist stolz auf sich. Das Plakat ist ihm wirklich gelungen. Er kann gut malen, sehr gut sogar. Im Fach Bildnerisches Gestalten bekommt er immer eine Eins.
»Eine Eins mit ganz vielen Plussies dahinter«, scherzt seine Lehrerin Frau Schulze jedes Mal, wenn sie ihm eine benotete Arbeit zurückgibt. Frau Schulze ist Christians Lieblingslehrerin.
Frau Schulze sieht ein bisschen aus wie Christians Mama. Sie hat die gleiche Haarfarbe und trägt auch die gleiche Frisur, nur etwas kürzer. Frau Schulze ist genauso groß und schlank wie Christians Mutter, hat aber etwas mehr Speck um die Hüften als sie. Und auch viel mehr Sommersprossen auf der Nasenspitze und den Wangen. Sogar am Handrücken hat Frau Schulze braune Flecken.
Frau Schulze ist immer gut gelaunt. Ihre blauen Augen funkeln vor Freude, wenn den Kindern etwas gut gelingt und wenn ihr etwas nicht so gut gefällt, legt sie ihre Stirn in Falten, genauso wie Christians Mutter es macht, wenn ihr etwas missfällt. Und ihre Augen werden dunkelgrün, wenn sie sich aufregt. Christian hat die dunkelgrünen Augen von Frau Schulze bis jetzt nur einmal gesehen - bei einer schlimmen Sache auf dem Pausenhof, aber das ist eine andere Geschichte.
Christian hat schon des Öfteren versehentlich Mama zu Frau Schulze gesagt. Und Frau Schulze hat sich darüber gefreut. Er wird Frau Schulze eine Ansichtskarte schrei- ben, vom Meer vielleicht, nimmt Christian sich vor. Oder von einem Bauwerk. Er wirft der Sonne auf dem Plakat eine Kusshand zu. Dann sucht er nach dem Hausschlüssel: im Rucksack, in den Hosentaschen, in der Jackentasche.
Normalerweise hat Christian keinen Hausschlüssel in der Schule mit dabei. Seine Mutter wartet immer im Verkaufsladen auf ihn und er darf dann zur Mittagspause die Ladentür abschließen. Danach gehen Mutter und Sohn hinauf in die Wohnung in den ersten Stock zum Mittagessen. Manchmal kommt auch der Vater dazu. Aber das ist sehr selten. Und wenn es so ist, dann ist es wie ein kleines Fest.
8. Kapitel
Heute muss Christian allein zu Mittag essen. Seine Mutter hat einen Arzttermin. Und der Vater isst außer Haus. Rainer Schneider ist sehr beschäftigt. Der tüchtige Geschäftsmann will vor dem Urlaub noch den Scheunenladen mit Kartoffeln und Äpfeln bestücken, außerdem Petersilie, Winterrettich, Feldsalat, Kopf- und Pflücksalat säen. Es gibt neun verschiedene Kartoffelarten im Scheunenladen, sogar blaue. Rainer Schneider ist sehr stolz auf seine Kartoffelvielfalt.
Marie Schneider hat den Mittagstisch für den Sohn in der Küche eingedeckt. Die Familie benutzt das Esszimmer nur an besonderen Tagen wie Geburtstage, Weihnachten, Silvester und Ostern. Das ist im Alltag bequemer so. Ein Glas mit frisch gepresstem Apfelsaft steht neben dem Teller mit dem Hahn und Henne Motiv. Auf der weißen Papierserviette liegt das silberne Essbesteck mit dem Wellenmuster.
Christians Kosename ist eingraviert: ‚Chrissie’.
Die beiden i sind mit einem kleinen Herz verziert. Neben dem Namen steht aufrecht ein Pinguin. Christian hat das Besteck von Opa und Oma zur ersten heiligen Kommunion geschenkt bekommen. Sogar eine Obstgabel ist dabei. Christian ist sehr stolz auf das kostbare Besteck, das er jeden Tag benutzen darf.
Die fürsorgliche Mutter hat das Glas mit einem Bierdeckel abgedeckt, wegen der Fliegen. In diesem Jahr gibt es besonders viele. Es ist ein Mückenjahr, meint Frau Müller, weil es so feuchtschwül ist. Und Christian hofft, dass Frau Müller deswegen den ganzen Sommer über ihre Fenster geschlossen hält.
Am liebsten wäre es ihm, wenn es immer feuchtschwül wäre, das ganze Jahr über. Und Frau Müller die Fenster nie wieder öffnen und auch für immer in der Wohnung bleiben würde. Nach solchen Gedankengängen fühlt sich Christian oft schuldig und gemein. Dann legt er Frau Müller still und leise einen kleinen Strauß mit Gänseblümchen auf die Fußmatte vor ihrer Wohnungstür im zweiten Stock.
Das Nudelgericht für Christian steht in der Mikrowelle, das Schüsselchen mit dem Pflücksalat im Kühlschrank. Als Nachtisch gibt es Pfirsichkompott mit einem Klecks Sahne obenauf, stellt Christian freudig fest und reibt in Vorfreude mit beiden Händen über seinen Bauch.
Christian liebt das rotfleischige Pfirsichkompott von dem Baum, den er an seinem vierten Geburtstag zusammen mit seinem Vater hinter dem Haus gepflanzt hatte, sehr. Die Ernte war reichlich gewesen in diesem Jahr, die Mutter konnte viele Gläser mit Marmelade davon füllen. Und Christian durfte die Etiketten für die Gläser gestalten.
Christian hat Pfirsiche auf die Gläser gemalt, das Meer, Pinguine. Es