Großer Bruder sein. Gisela Sachs
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‚Hände waschen nicht vergessen’ mahnt der Zettel neben dem Wasserglas. Darunter, ein Lippenstiftküsschen von Mama. Marie Schneider haucht immer Lippenstiftküsschen auf die Nachrichten für ihren Sohn. Sie hat viele Lippenstifte. In allen möglichen Farben. Heute hat sie einen tomatenroten Stift benutzt.
Christians Mutter ist nicht krank. Sie hat nur einen Termin zur Vorsorge bei ihrer Frauenärztin, wie jedes Jahr. Christian kennt das. Er muss auch jährlich zur Vorsorge gehen, zum Zahnarzt und zum Hals-Nasen- Ohren-Arzt, wegen seiner Mandeln. Vielleicht muss er sogar operiert werden. Christian hat Angst davor. Er mag keine Krankenhäuser. Schon am Eingang wird ihm übel vom Geruch.
9. Kapitel
Es ist soweit. Rainer, Marie und Christian Schneider sitzen auf der hintersten Bank im Reisebus, damit sie sich mehr ausbreiten können. Es ist ziemlich warm im Bus und einer der Busfahrer schaltet die Klimaanlage ein. Sie sind zu zweit und werden sich abwechseln beim Fahren, erklärt der ältere der Fahrer, als er sich und seinen Kollegen vorstellt. Sie heißen beide Hungerbühler mit Nachnamen. Und sie haben beide eine Glatze, Segelfliegerohren und eine Knollennase.
»Vater und Sohn vielleicht?«, überlegt die Mutter.
»Möglich«, antwortet der Vater.
Christian muss kichern über den Namen. Seine Mutter lacht auch, aber lautlos. Marie Schneider bekommt viele kleine Fältchen unter die Augen, wenn sie lautlos lacht. Ihre Augen funkeln dann, wie Diamanten, und ihre Mundwinkel zucken. Beim Lautloslachen würde seine Mutter aussehen wie ein kleines Äffchen, meint Christian. So in etwa wie Judy, sein Lieblingsplüschtier.
Der ältere der Busfahrer legt Musik auf. Christian kennt die alte Schlagermusik von seiner Oma: ‚Sugar, Sugar, Baby’, ‚Marmor, Stein und Eisen bricht’ und ‚Da sprach der alte Häuptling der Indianer’ und so Sachen. Oma Erna besitzt noch einen Plattenspieler und viele Schallplatten. Und Christian hört sich die Lieder ganz gerne an.
Christian liebt das Lied ‚Da sprach der alte Häuptling der Indianer’ ganz besonders. Oft hört er sich den Song mehr als zehnmal hintereinander an, vollführt dabei seine Indianerfreudentänze. Und Opa Wilhelm tanzt begeistert mit.
Der Großvater formt seine Hände zum Trichter, hält sie ganz dicht an den Mund und stößt ein lautes »Uh, uh«, heraus, während er durch das Wohnzimmer tanzt. Er kann nicht mehr so flott tanzen wie vor ein paar Jahren noch, weil er einen Fahrradunfall hatte. Aber ganz laut schreien kann der Opa. So laut, dass Oma Erna sich die Ohren zuhält, wenn er sein »Uh, uh«, schreit.
»Helmchen, du benimmst dich wie ein kleines Kind«, sagt die Oma dann immer kopfschüttelnd. Sie hält sich mit beiden Händen die Ohren zu und begibt sich in die Küche, setzt sich in den Lehnstuhl am Fenster und strickt Socken.
Christian liebt seine Großeltern sehr. Den Opa noch ein bisschen mehr, weil er so lustig ist. Und weil der Opa so viel weiß. Christian kann ihn alles fragen. Auch ganz verrückte Sachen. Opa Wilhelm weiß, warum der Specht keine Kopfschmerzen bekommt.
Er weiß, warum Flugzeuge Streifen an den Himmel machen.
Er weiß, warum ein Murmeltier Winterschlaf hält. Er weiß, warum ein Kamel die Hitze so gut aushält.
Er weiß, warum die Sterne funkeln und der Mond uns immer dieselbe Seite zeigt.
Er weiß, warum die Haut beim Baden schrumpelt.
Er weiß, warum den Pinguinen die Füße nicht festfrieren und all die Sachen, die meist niemand weiß.
»Der Opa ist mein bester Kumpel«, meint Christian.
»Außer Davie.«
Einige der Fahrgäste singen die Schlager mit, andere unterhalten sich, manche flüstern, manche reden laut. Einige schauen aus dem Fenster und einige halten ein Nickerchen. Bäckertüten rascheln, Flaschen werden geöffnet. Und es gibt Scherben. Eine Frau hat ihre Wasserflasche fallen lassen und jammert. »Einen Putzlappen, schnell einen Putzlappen.« Christian sieht sich im Bus um. Aber niemand hat einen Putzlappen dabei.
»Wenn die Frau Müller jetzt dabei wäre, die hätte sicherlich einen Putzlappen dabei«, murmelt Christian. Aber er ist froh, dass es nicht so ist. Und, dass Frau Müller das Haus in der Vogelsangstraße hütet. Und die Blumen gießt. Und die Tiere versorgt.
»Ich bin das einzige Kind«, stellt Christian enttäuscht fest.
»Im Hotel und am Strand werden viele Kinder sein!«, tröstet die Mutter. »Wenn du da nur mal recht hast«, murrt Christian und kramt seine Bücher aus dem Rucksack. Er liest sich schnell fest, wie immer.
»Schau mal, Chrissie, die Wolke sieht aus wie ein Seepferdchen«, jubelt Marie Schneider. »Und die daneben wie ein Delfin. Und die dahinter, jetzt schau doch endlich mal aus dem Fenster, Chrissie, das Wölkchen sieht aus wie unser Tigerle.«
Christian lässt sich beim Lesen nicht gerne stören und er brummt etwas vor sich hin, das sich ein bisschen anhört wie das unterdrückte Muhen einer Kuh.
»Mmmmmfgrjnb.«
»Aus dem Seepferdchen ist ein Elefant geworden. Und aus dem Delfin ein Krokodil!«, sagt die Mutter begeistert.
»Das Krokodil sperrt sein Maul auf. Und jetzt ist aus dem Elefanten ein Löwe geworden.«
»Mmmmmfgrjnb.«
»Schau doch, Chrissie. Das ist richtig spannend! Wolken verändern sich ja so schnell.«
»Mmmmmfgrjnb.«
»Ach, Kind«, seufzt die Mutter. »Jetzt schau doch endlich mal aus dem Fenster!«
»Mmmmmfgrjnb.«
Die Mutter nimmt dem Sohn das Piratenbuch aus der Hand und macht ein Äffchengesicht. Der Vater lacht laut auf. So laut, dass die Menschen im Bus sich neugierig umdrehen und Christian vor Verlegenheit nicht weiß, wo er hinschauen soll.
»Hast du Lust auf ein Kartenspiel, Chrissie?«, versucht der Vater abzulenken.
»Jetzt nicht!«, antwortet Christian knapp. »Ich will weiterlesen!«
Er schnappt nach seinem Piratenbuch, liest weiter und vergisst die Welt um sich herum.
»Schau doch mal, Chrissie, das kleine Wölkchen rechts neben der großen Zuckerwattewolke sieht wie ein kleiner Engel aus.«
»Mmmmmfgrjnbm.«
»Siehst du die zarten Flügelchen nicht? Ihre Locken- pracht?«
»Mmmmmfgrjnbm.«
»Ja«, stimmt der Vater zu. »Da hast du recht, Marie. Das Wölkchen sieht wirklich wie ein Engelchen aus.«
»Und die daneben, wie eine Prinzessin. Siehst du das zarte Gesichtchen, das Krönchen auf dem Kopf, ihre Stiefelchen, ihr kuscheliges Jäckchen auf den zarten Schultern. Sie hat ein Spitzenkleidchen an. Erkennst du das, Rainer? Ach, Rainer. Mit dem Bus in den Urlaub zu fahren ist so wunderwunderschön!«