Die Göttinnen. Heinrich Mann

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Die Göttinnen - Heinrich Mann

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oder andere sich die Bärte abschneiden, darum solltet ihr euch nicht kümmern, dieweil euch das gar nichts angeht. Lasst euch doch ruhig führen, nachzudenken braucht ihr überhaupt nicht."

      Aus den angrenzenden Gassen liefen Neugierige herbei, der Platz füllte sich. Die städtisch angezogenen jungen Leute grinsten. Die Begeisterten klatschten in die Hände und verstärkten dadurch das Murren der Übelwollenden. Zum Glück waren in der Menge viele von Pavic' Getreuen und manche, die im Solde Rustschuks standen. Auf allen Punkten des Marktes erhob sich, pflichtgetreu und aus voller Kehle, ihr Geschrei:

      "Wir lieben dich! Lebe lange!"

      Die Herzogin begann nochmals, ungeduldig, doch nicht unfreundlich.

      "Übrigens verzeihe ich dem Volke, wenn es sich unsinnig benimmt. Ich weiß ja, Dummheit, Aberglaube und Trägheit sind an allem schuld. Was kann zum Beispiel jener, der den Bäcker umbrachte, für seine Tat? Man muss euch erziehen…"

      Sie kam nicht weiter. Die Entrüstung des moralisch empfindenden Volkes brach los.

      "Ein Mörder! Was ein Mörder dafür kann?! Du weißt gewiss nicht, was du redest!"

      Die vom Lande brüllten fassungslos durcheinander. Die Schlingel aus der Stadt stießen schrille Pfiffe aus. Die bezahlten Beifallsspender waren verstummt, überall herrschte Ehrlichkeit. Vor beiden Türen des Wagens stauten sich Haufen drohender Gestalten, die die Finger ausstreckten:

      "Da seht die an, was ihr nur einfällt, der Vornehmen!"

      Von ihren Kissen herab blickte die Herzogin umher, sehr erstaunt. Vorne fuchtelten zwei Erbitterte mit blanken Äxten, gerade über den Köpfen der Pferde. Die Tiere scheuten; der Kutscher hieb auf sie ein. Er meinte es gut mit seiner Herrin und entführte sie im Galopp.

      Am Nachmittage zogen johlende Scharen auf die Piazza Colonna. Vor dem Palais Assy vollführte die gebildete Jugend, unterstützt von den unteren Ständen, eine Katzenmusik. Die Herzogin erfuhr, dass im Schloss und bei der Partei Koburg eitel Freude wohne. Sie machte eine zornige Regung durch und beschloss, der ganzen Sache ein eiliges Ende zu bereiten. Das Glück sollte sich nicht nochmals wenden, wie zur Zeit der Pächterunruhen und des Lärms um den internierten Schauspieler. Sie berief die Ihrigen auf denselben Abend und empfing, wieder vollkommen wohlgelaunt, die Erschreckten im langen Spitzenhemd. Vor Vergnügen über die gelungene Maskerade vergaß sie ganz, dass ihr Misserfolg sie ohne weiteres mit Verrätern umgab, und dass er den Machthabern Mut machen musste zu einem Schlage gegen sie. Noch in der Nacht sollte der Staatsstreich geschehen; stattdessen fand die Nacht sie, mit Mühe der Verhaftung entgangen, weit draußen im Meer.

      Ihr Tag hatte im Harem begonnen und in einer Volksrede gegipfelt; sie beschloss ihn auf dem Hinterdeck einer schwerfälligen Segelbarke, allein und flüchtig. Zu ihren Füßen öffnete sich eine Luke über der Küche und dem Schlafraum des Schiffers; ein übler Geruch stieg heraus. Vorne auf einer Taurolle saß Pavic und hielt seinen Knaben umschlungen. Beim Einsteigen hatte sie zu ihm gesagt, lachend und mit leiser Geringschätzung:

      "Sie wissen, Herr Doktor, Opfer verlange ich von Ihnen nicht mehr. Sie dürfen dableiben."

      Er hatte sie groß und innig angeschaut:

      "Wohin Sie gehen, Hoheit, dahin gehe ich."

      Er liebte sie, er litt unter ihrem Schicksal, und er war in großer Angst für die eigene Person. Nach dem Verschwinden seiner Beschützerin würde ihm selbst der Garaus gemacht werden, das wusste er. Nun gab er sich, hinter der aufgespannten Leinwand, die ihm ihre Gestalt verbarg, peinlichen Gedanken darüber hin, was für ein Gesicht sie wohl mache? Was sollte jetzt aus ihnen beiden werden? Wenn sie am Morgen einsam und verloren in der Weite einander wiedersahen, als was für Menschen würden sie sich begrüßen? "Ich bin doch ihr Geliebter," sagte Pavic sich, ohne daran zu glauben.

      Aber es konnte sein, dass die Verbannung ihren Hochmut brach! "O gewiss, sie wird noch demütig werden gleich uns Armen! Was ihr und mir zustößt, ist heilsam," so überlegte er, ergeben in die Fügung. "Und dann … und dann …" Aus der Verstörtheit des plötzlich ganz Entgleisten richtete sich eine neue stürmische Hoffnung auf. "Dann bin ich ihr wieder, was ich ihr früher war! Alle haben mich angestaunt als Helden, nur sie tat es niemals mehr, seit ich damals … nicht starb. Ah! Jetzt bin ich gerächt! Zu mir wird sie sich flüchten in der Fremde, unter den Verächtern. Denn sie werden sie, die Gestürzte, verachten … Wer weiß, vielleicht lernt sie die Armut kennen…"

      Pavic begann, damit sie ihm gehören könne, für seine Herrin das äußerste Elend herbeizusehnen.

      Plötzlich meinte er sie rufen zu hören. Er sprang, mit der Eile seines schlechten Gewissens, von seinem Sitze auf, stolperte über eine Kette und schlug hin, die Beine in der Luft. Sein rechter Fuß stieß heftig gegen den am Bootrand schlummernden Knaben. Pavic raffte sich entsetzt vom Boden auf: das Kind war verschwunden. Der Vater wollte es nicht glauben, er tastete, auf den Knieen rutschend, in der Dunkelheit umher. Dann richtete er sich steif empor und stieß einen rauen Schrei aus. Der Schiffer lief herbei, er reffte die Segel. Sie ruderten gemeinsam zurück und suchten. Sie ließen Laternen über Bord; die blutigen Lichter glitten die Wand hinab und herauf, wie rotgeweinte Augen, die nichts fanden.

      Die Herzogin sagte ihm kein Wort. Er schlich zurück hinter das wieder aufgespannte Segel. Die Luft der Mainacht trug ihr seine zerrissenen Klagelaute zu, und sie wusste nicht, wovon es sie jetzt fröstelte, vom Winde oder von seinem Schluchzen. Sie hatte nur einen leichten Ballumhang über den nackten Schultern. Der Morlak, der die Barke lenkte, legte ihr seinen weiten Mantel um. Die Nacht verging ihr in peinvoller Schläfrigkeit; jedes Mal im Augenblick des Einschlummerns schrak sie empor.

      Einmal, als sie die Augen öffnete, hatte das Meer die Finsternis durchbrochen, von der es gebannt gehalten war. Eine graue Schlange, krümmte es sich um sie her und wollte sie ersticken. Sie stieß, mit einem leisen Wehruf, den Alp von sich. Aber ein neuer Schauder ergriff sie; das Kind fiel ihr ein, sie fühlte, wie es hinter ihr im Wasser trieb und den Kopf mit toten Augen nach ihr ausreckte. "Was will es von mir?" dachte sie. Da hörte sie sich selbst sagen: "Sie wissen, Herr Doktor, Opfer verlange ich von Ihnen nicht mehr."

      "Was für ein Unsinn!" flüsterte sie sich zu. "Habe ich ihm denn zugemutet, sein Kind ins Wasser zu stoßen?"

      Sie wandte sich hastig um; es schwamm wirklich, in der beginnenden Helligkeit, ein Wesen ihrem Fahrzeuge nach, ein Delphin, der heiter grunzte, wie ein Schwein. Unversehens schoss er, schnell und kraftvoll, dem Boote voraus, in den Kreis der Genossen, die umherspielten in den Morgenwellen. Vom Horizont, wo noch die Angstblässe der Nacht hing, sickerten rosige Tropfen, als eine Erlösung in das Meer. Es glättete sich und ward durchsichtig. Der Blick tauchte in geahnte Garten hinab, wo an Pfaden von bunten Muscheln Korallenbäume die bleichroten Äste ausbreiteten und farbenreiche Fungusarten aufblühten inmitten von Tang und Algen. Nun war der halbe Himmel vom roten Licht über spült. Die Herzogin dachte:

      "Wo die Sonne aufgeht, liegt das Land, das ich verlassen habe. Dieser Frühwind kommt dorther, er riecht nach Salz, nach Fischen, nach Uferschlamm, mir scheint, er riecht auch nach dem Moos der Klippen und nach ihrer Einsamkeit. Ich spüre dies Wehen und muss an unabsehbare Steinfelder denken, mit weißen Straßen ohne Ende, an denen nur bestaubte Kakteen wachsen."

      "Diese Luft sollte der Atem eines freien Landes sein," sagte sie, tiefernst, vor sich hin.

      Das Meer gewann eine azurne Färbung, dann eine ultramarine, und aus dem abgründigen Blau quirlte weißer Schaum herauf, wie ein Zeichen geheimer Erregungen.

      "Gestern Abend, beim Einsteigen, habe ich noch gelacht. Warum jetzt nicht mehr?

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