Widerstreit. Helmut Ortner

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Widerstreit - Helmut Ortner

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es Stimmen, die meinen, Politik müsse nicht nur Probleme lösen, sondern auch Sinn stiften. Ich bin da entschieden anderer Ansicht: dafür mag Religion zuständig sein (ich bin gottlos glücklich), nicht aber Politik. Am besten aber, man kümmert sich um die eigene Sinnstiftung. Wir müssen schon selbst mit uns zurechtkommen. Es braucht also eine gute Balance, einen moderaten inneren Dialog zwischen Selbst-Zweifel und Selbst-Bewusstsein. Ein Pakt zwischen dem ICH und dem WIR.

      Eine offene Gesellschaft lebt von Veränderung. Es braucht immer wieder eine neue Aufklärung. Aber Aufklärung ist kein Selbstzweck, kein Dogma, sondern eine Haltung, ein »Ethos«, wie Michel Foucault es formulierte. Es braucht Menschen, die sich trauen, gegen tradierte Denkmuster und Polit-Schablonen anzudenken und neue Möglichkeiten und Perspektiven zu entwerfen. So sehr unsere Demokratie auf Konsens angelegt ist, es braucht Gegenrede und Widerstreit. Sie sind der Sauerstoff für die Demokratie.

      WIDERSTREIT vereint Essays, Kommentare und verschiedene Texte, von denen einige bisher unveröffentlicht sind. Andere sind in den letzten Jahren verstreut in Tageszeitungen, Zeitschriften und auf Online-Magazinen erschienen. Die Angaben zu der jeweiligen Erstveröffentlichung finden sich am Ende des Buches. Hier wollen sie allesamt als Plädoyer gegen jede Form der Demokratie-Verachtung gelesen werden.

WUT UND WAHN

      VERQUERTE WUTBÜRGER, BESORGTE DEMOKRATEN

      Das Land in Zeiten von Corona: die Stimmung ist angespannt. Die einen misstrauen dem Staat, die anderen rufen nach ihm. Demokratie braucht Transparenz und Vertrauen. Das ist die Währung der Demokratie.

      Leipzig, Samstag, 7. November 2020. Fast 40 000 selbsternannte »Querdenker« aus der gesamten Republik versammeln sich in der Stadt, um das Ende der Pandemie auszurufen beziehungsweise zu fordern. Esoteriker marschieren neben Hooligans, Regenbogen-Fahnen flattern neben Reichskriegs-Flaggen. Ohne Maske, ohne Abstand, weder zum Nachbarn noch zu den Hunderten Nazis. Eine neue deutsche Volksgemeinschaft trifft sich hier, die sonst kein Elend und keine Armut auf der Welt auf die Straße treibt, aber nun sich unterdrückt fühlt und zum Widerstand aufruft. Gegen die »Merkel-Diktatur«, gegen Bill Gates, George Soros und allerlei finstere Verschwörungen reicher Pädophiler, die im Hintergrund angeblich die Fäden ziehen.

      Neben rechtsradikalen Plakaten und antisemitischen Spruchbändern sind Leute zu sehen, die sich als KZ-Häftlinge kostümieren, um sich als die wahren Erben, als Kämpfer der Freiheit gegen »Diktatur und Faschismus« auszugeben. Sie skandieren »Nie wieder!« und »Wehret den Anfängen!« So zieht die bunte Querfront-Polonaise, vollends von jeder Rationalität befreit, unter den Rufen von »Wir sind frei, Corona ist vorbei!« und allerlei anderen sinnfreien Spaß-Slogans durch das Zentrum der Stadt. Ein Volksfest des kollektiven Wahns.

      Eine Woche später treibt es die verquerten Freiheitskämpfer wieder auf die Straße, diesmal in Hannover. Eine junge, ebenso naive wie narzisstische Jana aus Kassel, die nach eigenem Outing regelmäßig gegen Corona-Maßnahmen protestiert, vergleicht sich auf der Bühne mit der von den Nazis ermordeten Sophie Scholl. »Ich fühle mich wie Sophie Scholl, da ich seit Monaten hier aktiv im Widerstand bin, Reden halte, auf Demos gehe, Flyer verteile und auch seit gestern Versammlungen anmelde«, ruft sie mit brüchiger Stimme. Sie will niemals aufgeben, sich für »Freiheit, Frieden, Liebe und Gerechtigkeit« einsetzen. Beifall und Jubel aus dem Publikum. Das war sogar der New York Times einen Beitrag wert. Im Artikel hieß es, ihre Rede sei das »jüngste Beispiel« von Anti-Corona-Demonstranten und Verschwörungs-Erzählern, die ihren Protest mit der Unterdrückung und Ermordung der Juden durch die Nazis gleichsetzten. Erwähnung findet auch eine 11-Jährige, die sich bei einer »Querdenker«-Sause zuvor am Mikrophon mit Anne Frank verglich, weil sie ihren Geburtstag aus Angst vor den Nachbarn angeblich hatte geheim halten müssen.

      Man fühlt sich in Zeiten zurückversetzt, als sich der nazi-kontaminierte Hitler-Durchschnittsdeutsche gerne selbst als Nazi-Gegner und Widerstands-Kämpfer eingestuft sehen wollte. Es scheint, dass in Pandemie-Zeiten viele Menschen sich selbst den Status eines Widerstandkämpfers anheften. Die Folge: »außer in Zeiten der Entnazifizierungs-Verhöre gab es noch niemals soviel Widerstandskämpfer wie in den letzten Jahren«, wie Karl-Markus Gauß in der Süddeutschen Zeitung konstatiert. Eine bizarre Wahrnehmung der Wirklichkeit. Bislang galt Geschichtsklitterung in der bundesrepublikanischen Nachkriegsrealität als Terrain rechtsradikaler Wirrköpfe und Ewig-Gestriger. Dann kam die AfD. Mit ihrem Einzug in Landesparlamente und den Bundestag bekam das Rechts-Milieu eine parlamentarische Bühne und ein öffentlichkeitswirksames Podium. Was folgte, waren kalkulierte Tabubrüche und gezielte Provokationen, etwa Björn Höckes Gerede von einer »erinnerungspolitischen Wende um 180 Grad« oder Alexanders Gaulands »Fliegenschiss«-Verharmlosung der Nazi-Diktatur. Historische Demenz, Ignoranz oder böse Absicht? In jedem Fall eine trübe Melange aus allem. Die AFD findet nicht nur ihre Wähler – vor allem im Osten der Republik (bei der Landtagswahl in Sachsen 2019 beispielsweise 27,5 Prozent) –, sondern kann sich auch über flächendeckende Zustimmung jenseits von Wahlen freuen. Auch wenn der Verfassungsschutz Teile der Partei mittlerweile unter Beobachtung stellt, finden viele Deutsche diese Partei nicht gefährlich und unappetitlich, sondern fühlen sich von ihr und ihren Lautsprechern politisch angemessen vertreten. Ein irritierender Befund.

      Was geht da vor sich, wenn sich ältere Ewig-Gestrige und Verblödet-Heutige als Retter der Demokratie aufspielen? Natürlich verharmlosen sie alle auf grässliche und beschämende Weise den Nationalsozialismus. Sie heften sich Judensterne an ihre modischen Anoraks – auf denen »Ungeimpft« oder »Jesund« steht. Dauerempörte »Kämpfer der Freiheit« beanspruchen, Opfer zu sein. Sie fühlen sich vom Staat getäuscht, reglementiert, verfolgt. Dabei haben sie mit keinerlei staatlicher Repression zu rechnen. Einzige, schwer erträgliche Gängelung: den genehmigten Demonstrationsweg durch die Innenstadt müssen sie einhalten, 1,5 Meter-Abstand plus Masken tragen. Ächtung droht allenfalls in milder Dosierung, womöglich müssen sie ertragen, »Covidioten« genannt zu werden. Tuchfühlung mit der Staatsmacht gibt es allenfalls, wenn ein Mob im Kampf gegen die »Corona-Diktatur« am Rande einer Demonstration versucht, ins Berliner Reichstagsgebäude einzudringen. Doch das gelang nur bis zur Aufgangstreppe, dann drängten Polizisten die militanten Wirrköpfe zurück.

       Die Contra-Bürger: Auf dem Weg in die »Corona-Diktatur«

      Es scheint, bei vielen Demonstranten ist in den düsteren Zeiten der Pandemie einiges verloren gegangen: erst die Vorsicht, dann die Vernunft – schließlich auch das Vertrauen in die Politik. Sie misstrauen einem Staat, von dem sie behaupten, er würde als nächstes eine »Corona-Diktatur« errichten, angeführt von der Putschistin Angela Merkel und dem Obristen Olaf Scholz. Wo aber Misstrauen im Überfluss produziert wird, grassiert rasch der Verdacht, die ganze Existenz staatlicher Institutionen könne am Ende vielleicht nur eine gigantische Täuschung sein, hinter welcher sich finstere Eliten verbergen. Seine extreme Ausformung in den psychopathologischen Bereich erleben wir in »Bewegungen« wie dem durchgeknallten »QAnon«-Glauben, wonach gewaltige geheime Mächte unter der Oberfläche der Gesellschaft ein Regime von Verbrechen betreiben. Das wiederum treibt Verwirrte, die alle möglichen Beschwernisse und Unglücke des Lebens stets irgendwelchen organisierten Mächten zuschreiben möchten, auf die Straße, eingenebelt. Sie wähnen sich moralisch absolut »auf der richtigen Seite«. Vielleicht liegt darin der Erfolg des »Querdenker«-Universums.

      Die Mehrheit der Demonstranten, so hören wir immer wieder, seien zwar empörte, aber alles in allem doch friedliche Bürgerinnen und Bürger. Herr Biedermann und Frau Demeter seien eben besorgt und dies wollten sie auch öffentlich sichtbar machen. Niemand sollte dagegen Einwände haben. Demokratie lebt vom Widerspruch. Keine Frage: Das Virus hat viele Menschen in schwierige Situationen gebracht, wirtschaftlich und mental. Und je länger die Pandemie andauert, umso existentieller die Folgen. Aber muss es gleich dazu führen, dass es auch die objektive Faktenlage samt eigenem Verstand vernebelt?

      Als das neuartige Corona-Virus

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