Widerstreit. Helmut Ortner
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Dennoch: weder sind wir auf dem Weg in einen »faschistoiden Hygienestaat« (eine geschichtsvergessene Terminologie), noch entledigt sich das Parlament durch ein »Ermächtigungsgesetz« (auch dieses Wort ist ein Missgriff) seiner Verantwortung, aber den Bürgern wird viel zugemutet: Kontaktbeschränkung, Reisebeschränkung, finanzieller Ruin. Am Düsseldorfer Rheinufer durfte man nicht mal mehr stehen bleiben: »Verweildauerverbot« nannte sich diese Anordnung und Polizei und Ordnungsämter waren beauftragt, Verstöße mit einem Bußgeld zu ahnden. Bislang ertrug der disziplinierte Verfassungs-Bürger das alles meist stoisch. Er ist auch in Vorleistung gegangen: mit Hygienekonzepten, Disziplin, Verständnis. Im gleichen Zeitraum kann die Bundesregierung für sich allenfalls ins Feld führen, die schnelle Entwicklung von Impfstoffen wenigstens nicht aktiv verhindert zu haben.
Alle Instrumente, den Krisenzustand zu beenden, liegen mittlerweile auf dem Tisch: Impfen, Testen, digitale Kontaktverfolgung. Doch es herrscht eine organisierte Zuständigkeits-Diffusion zwischen Bund und den Ländern. In der Jahrhundertkrise wird die Republik von einem Siebzehner-Direktorium geleitet, das nirgendwo im Grundgesetz vorgesehen ist. Die Rollenverteilung zwischen Bund und Ländern, zwischen Regierung und Opposition, zwischen Exekutive und Legislative verschwindet zusehends. In diesem Verantwortungsnebel will keiner die Verantwortung dafür tragen, wenn etwas schief läuft. »Statt sich darauf zu konzentrieren, wie die Lockdown-Maßnahmen überflüssig gemacht werden können, streitet eine Ministerpräsidentenkonferenz darüber, wie sie gerechtfertigt und am besten verkauft werden. Das ist das eigentlich Ermüdende«, kommentiert der Berliner Tagesspiegel. Wenn die Pandemie uns nun noch immer beherrscht, ist das auch ein Staatsversagen. Die Frage drängt sich auf, wie lange, geduldig und diszipliniert der Verfassungs-Bürger diesen Zustand noch akzeptiert. In jedem Fall aber gilt: wir müssen die Krise mit den Mitteln der Demokratie bewältigen.
LUFTHOHEIT ÜBER DEUTSCHLANDS STAMMTISCHEN
Der Wut-Bürger setzt auf reflexhafte Empörung. Mut-Bürger dagegen auf konstruktiven Streit. Deshalb ist er für unsere Demokratie so unerlässlich.
Wir kennen die Bilder: Immer wieder montags trafen sich in Dresden Tausende von »Wutbürgern«, um Rednern zu applaudieren, die für Volk und Vaterland den Notstand ausriefen, überall Gefahr und Verrat witterten und eindringlich vor Flüchtlingen und Lügenpresse warnten. Montag war Wut-Tag.
Deutsche, hört die Signale! Geschrei, Gegröle, Gezeter – der akustische Soundtrack aller Empörten und Enttäuschten von Sachsen bis in die Niederungen heimischer Mittelgebirge, ein Sound, jederzeit imstande, kollektive reflexive Handlungshysterie zu entfachen. Die Echo-Welle des Unappetitlichen und Unangepassten, von der sich der national-gesinnte Wutbürger gerne mitreißen und mittragen lässt, hält ungebrochen an.
Auch die gern zitierte »Mitte der Gesellschaft« ist von ihr erfasst. Flüchtlinge, Ausländer, Asylanten, kurzum »alles Fremde« – alles, was sich immer schon eignet als ideale Projektionsfläche für gesellschaftliche und politische Probleme im eigenen Planquadrat. Nationalistische Angst-Fantasien als Motor und Motivation, als Appell und Attacke. Es geht um die beschworene »nationale Identität« und besteht in der Abgrenzung nach außen. Das Motto: »Deutschland zuerst!«
Und so findet sich nun beinahe eine Hundertschaft von AfD-Abgeordneten im Bundestag, um die gefühlte Heimat zu verteidigen – wenn es sein muss, mit schriller Rhetorik. Es geht um »kulturelle Wurzeln«, um »Völkisches« und vor allem: gegen die »Altparteien«, die »Lügenpresse«, »die Volksverräter«. Die Frage lautet: Ist das noch in Ordnung, ist das noch verfassungsgarantierte Narretei – oder schon nazi-kontaminierter Wahn? Ignorieren, tolerieren oder aufregen? Ja, keine Frage: es gibt sie, die mediale und politische Tendenz, alles im Konsensabgleich zu erledigen, so als sei unsere demokratische Hausordnung gleich in höchster Gefahr, wenn Sprache und Begriffe mal pubertär rüpelhaft, mal politisch grenzdebil durchs Parlamentsplenum, über die Plätze der Republik – oder samstags durch die Stadionkurven – zu laut und zu schrill daherkommen. Das ist mitunter unangenehm, anmaßend, abstoßend, gar grenzdebil. Was tun?
Wir sollten solcherlei Entgleisungen einerseits nicht mit allzu übertriebener Empfindsamkeit begegnen, den Rest – so sieht es unser Rechtsstaat vor – klären Staatsanwaltschaften und Gerichte. Andererseits: Zu viel Verständnis und coole Toleranz gegenüber jeder Form politischer Dummheit und Devianz ist auch nicht immer die sinnvollste Reaktion. Vor allem die extreme Rechte provoziert gerne mit wirren Begriffen und lenkt damit ab von ihren noch wirreren Ideen. Wer das AfD-Führungsduo Gauland und Weigel einmal in Talkshows erlebt hat, findet hier eindrucksvollen Anschauungsunterricht, wie die AfD-Fraktion im Bundestag agiert. Verbaler Treibstoff für eine national-konservative – wenn es sein muss – auch rechte Identitätsmaschinerie, live aus dem Berliner Plenarsaal.
Da will auch die CSU als verlässlicher Begriffslieferant nicht hintenanstehen. Wie weiland schon Franz-Josef Strauß proklamierte, »dass rechts von der CSU nichts wachsen dürfe«, fordern nun auch dessen Nachkömmlinge pflichtschuldig ein AfD-grundiertes neues deutsches Heimatgefühl. Beispielsweise Alexander Dobrindt. In der Tageszeitung Die Welt, dem Leitmedium der bürgerlich-konservativen Mitte, fordert er einen längst überfälligen gesellschaftlichen Aufbruch, eine »konservative Revolution«. Unter »konservativen Revolutionären« versteht die Geschichtswissenschaft elitäre, antidemokratische und deutschnationale Kräfte, die gegen die »dekadente« Weimarer Republik gekämpft haben. Männer wie Oswald Spengler, Carl Schmitt und Ernst Jünger, die zu Gewaltfantasien und Apokalyptik neigten, denen die Moderne und mit ihr die »Zivilisation« als Grundübel galten.
Stellt sich die Frage: Benutzt der CSU-Mann diesen Begriff bewusst? Der Berliner Journalist Michael Angele findet für den Geist, der aus Dobrindts Traktat spricht, den Begriff »Extremismus der Mitte« – und weil dieser neue Extremismus der Mitte alte Feindbilder braucht, verbindet der CSU-Frontmann seine rhetorische Kraftmeierei mit einem rabulistischen Gestus gegen die »68er«, die als die großen Zerstörer dastehen. »Linke Ideologien, sozialdemokratischer Etatismus und grüner Verbotismus« hatten ihre Zeit, skandiert Dobrindt und fordert eine »neue, konservative Bürgerlichkeit« für die Republik.
Vor allem will seine Partei bei der kommenden bayerischen Landtagswahl die verlorenen Stimmen ihrer Stammwähler zurück, die bei der Bundestagswahl bei der AfD ihr Kreuz gemacht haben. Grund genug, genauso zu sprechen wie die Rechtspopulisten. Nur nebenbei wollen wir festhalten: Dobrindts Partei ist in Bayern seit etwa sechzig Jahren durchgehend und im Bund 17 der vergangenen 25 Jahre an der Regierung beteiligt. Es bleibt also eher diffus, warum der proklamierte Aufbruch dort nicht stattfand. Christian Stöcker bringt in einer Spiegel-Kolumne das eigentliche Problem der Konservativen auf den Punkt: »Es fällt ihnen sehr schwer, den Wesenskern ihrer Weltanschauung klar zu formulieren. Vielleicht, weil sich Rassismus, Sexismus und Nationalismus nur die abgebrühtesten Rechtspopulisten zu formulieren trauen.« So ist es.
Es geht um die Lufthoheit über Deutschlands Stammtischen, um die Deutungsmacht von Begriffen: um Heimat und Vaterland, Familie und »christliche Werte«. Das gehört nun einmal zur DNA der Bayern-Partei. Vor allem aber geht es um eines: um Machtgewinn oder Machtverlust. In Abwandlung des großen Volksphilosophen Sepp Herberger, der einst verlautbarte, dass das nächste Spiel immer das schwerste sei, gilt für die neuen Eiferer des Konservativen: Die nächste Wahl ist immer die wichtigste. Der Kampf um »den Wähler draußen im Lande« ist also entbrannt. Lautstarke Empörungs-Rhetorik und eingespielte Leerformeln sind der Sound der Wahlkampfzeiten. Keine Partei pocht auf besondere Alleinstellungsmerkmale. Alle mischen mit. Wir haben uns daran gewöhnt.
Tatsache ist: Vor allem das politische Entertainment ist mitunter an einem Punkt angekommen, an dem es unerträglich geworden ist: Schlichte Verdummungs-Slogans wie »Ein Land, in dem wir gut und gerne leben«; im Nachbarland Österreich wird ein telegener, konservativer junger Mann zum Kanzler gewählt, der mit Plakaten warb, auf denen stand: »Es