Briefe über den Yoga. Sri Aurobindo

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Briefe über den Yoga - Sri Aurobindo

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Wenn er eine Verwirklichung meint, nach der es nichts mehr zu verwirklichen gibt, nach der keine weitere Entwicklung mehr möglich ist, dann stimme ich zu – ich selbst sprach von einem weiteren göttliche Fortschreiten, einer unendlichen Entwicklung. Doch das ist nicht die Frage, die Frage ist, ob man die Unwissenheit überschreiten kann, ob eine vollkommene, essentielle Verwirklichung möglich ist, die das Bewusstsein von der Finsternis zum Licht wendet, von einem Instrument der Unwissenheit, das nach Wissen sucht, in ein Instrument, oder besser noch, in eine Manifestation des Wissens, die einem größeren Wissen entgegenschreitet, und des Lichtes, das sich in ein größeres Licht weitet und erhöht – ist es möglich oder nicht? Meiner Ansicht nach ist diese Wandlung in der spirituellen Evolution des Wesens nicht nur möglich, sondern unvermeidlich. Die Verkörperung des Lebens hat nichts damit zu tun. Es ist nicht eine Verkörperung des Lebens, sondern des Bewusstseins und seiner Energie, wovon das Leben nur eine Phase oder eine Kraft ist. Wie das Leben das Mental entwickelte und die Verkörperung sich dann modifizierte, um in diese Entwicklung zu passen (das Mental ist genau gesagt das hauptsächliche Instrument einer Unwissenheit, das nach Wissen sucht), genauso kann das Mental das Supramental entwickeln, das seinem Wesen nach ein Wissen ist, das sich nicht selbst sucht, sondern sich durch seine eigene, selbsttätige Macht manifestiert. Seine Verkörperung kann sich dann wiederum modifizieren oder von oben modifiziert werden, um in diese Entwicklung zu passen. Der Glaube ist ein notwendiges Mittel, um zur Verwirklichung zu gelangen, da wir unwissend sind und das zu Verwirklichende noch nicht kennen; der Glaube ist tatsächlich ein Wissen, das unsere Unwissenheit ahnt, er geht der Manifestation des Wissens voran, er ist der Schimmer der noch nicht aufgegangenen Sonne. Sobald aber die Sonne aufgegangen ist, braucht man diesen Schimmer nicht mehr. Das supramentale Wissen trägt sich selbst. Es braucht durch den Glauben nicht getragen zu werden, da es aus seiner eigenen Sicherheit lebt. Du magst vielleicht einwenden, dass ein weiterer Fortschritt einer weiteren Entwicklung des Glaubens bedarf. Nein, eine weitere Entwicklung wird auf einer Basis des Wissens und nicht der Unwissenheit voranschreiten. Wir werden im Lichte des Wissens dessen eigenen Möglichkeiten der Selbsterfüllung entgegengehen.

      *

      Eine Evolution aus dem Unbewussten muss nicht leidvoll sein, solange kein Widerstand vorhanden ist; sie kann ein bewusst langsames und harmonisches Aufblühen des Göttlichen sein. Man sollte erkennen können, wie schön die äußere Natur sein kann und auch gewöhnlich ist, obwohl sie anscheinend „unbewusst“ ist. Warum sollte das Wachsen des Bewusstseins in der inneren Natur von so viel Hässlichkeit und Bösem begleitet sein, das die Schönheit der äußeren Schöpfung verdirbt. Der Grund ist in einer Entstellung zu suchen, geboren aus der Unwissenheit, die mit dem Leben aufkam und sich im Mental vergrößerte – es ist die Falschheit, das Böse, die aus dem tiefen Schlaf der Unbewusstheit stammen und die deren Wirken vom Licht der verborgenen, doch ihr immer innewohnenden Bewusstheit trennten. Es hätte jedoch nicht so sein müssen, es sei denn aufgrund des alles beherrschenden Willens des Höchsten. Dies aber bedeutet, dass die Möglichkeiten der Entstellung durch die Unbewusstheit und Unwissenheit manifestiert werden mussten, da jede Möglichkeit sich irgendwo manifestieren muss, um eliminiert zu werden. Ist sie einmal eliminiert, dann wird die Göttliche Manifestation in der Materie größer sein als im anderen Fall, da sie alle Möglichkeiten, die in dieser komplizierten Schöpfung enthalten sind, verbinden wird, und nicht nur einige von ihnen, wie es in einer einfacheren und weniger komplizierten Schöpfung durchaus hätte sein können.

      „Von Schönheit zu größerer Schönheit, von Freude zu größerer Freude durch besondere Anpassung der Sinne“ – ja, das wäre der normale, wenn auch langsame Verlauf einer göttlichen Manifestation in der Materie. „Misstönender Klang und störender Geruch“ sind das Ergebnis einer Disharmonie zwischen Bewusstsein und Natur, sie sind nicht eigentlich vorhanden; für ein befreites und harmonisches Bewusstsein wären sie, da ihm wesensfremd, nicht gegenwärtig und würden eine richtig entwickelte Seele und Natur nicht berühren. Selbst der „speiende Vulkan, das drohende Gewitter, der wirbelnde Zyklon“ sind in sich großartige und schöne Dinge und lediglich für ein Bewusstsein schädlich oder schrecklich, das unfähig ist, ihnen zu begegnen, sich mit ihnen auseinanderzusetzen oder einen Pakt mit den Geistern des Windes und Feuers zu schließen. Du gehst davon aus, dass die Manifestation aus dem Unbewussten so zu sein habe, wie sie jetzt und hier ist, und dass keine andere Art Welt der Materie möglich war; doch die Harmonie der stofflichen Natur als solcher zeigt, dass es nicht notwendigerweise eine uneinige, böse, wütende, aufgewühlte und leidvolle Schöpfung sein muss. Das seelische Wesen, wäre es ihm erlaubt gewesen, sich von Anfang an in Leben und Mental zu manifestieren und die Evolution zu lenken, statt hinter dem Schleier verbannt zu sein, wäre die Grundlage einer ewig hervorströmenden Harmonie gewesen. Jeder, der die Seele einmal in sich wirken fühlte, frei von vitaler Einmischung, wird sofort erkennen, dass dies ihre Wirkung gewesen wäre, da ihre Wahrnehmung nicht irrt, ihre Wahl richtig und ihr Tun harmonisch ist. Es ist nicht so gekommen, da die Dunklen Mächte das Leben zu etwas Forderndem, statt zu einem Instrument machten. Die Wirklichkeit der Feindlichen Mächte, die Art ihrer Rolle und die Richtung ihres Bestrebens kann von niemandem angezweifelt werden, dessen innere Schau entsiegelt wurde und der ihre unerquickliche Bekanntschaft machte.

      *

      Der folgende lange Brief war an den Schriftsteller Maurice Magre gerichtet und erhielt später den Titel „The Riddle of the World“ („Das Rätsel dieser Welt“), unter dem er 1933 in einem gleichnamigen Büchlein, zusammen mit einigen anderen wichtigen Briefen Sri Aurobindos veröffentlicht wurde. Er stellt die Beantwortung folgender Fragen dar, die Maurice Magre an Sri Aurobindo richtete:

      „Der göttliche Spirit hat also, als er sich in den Formen verkörperte, alles vorhergesehen und alles gewollt. Doch wie kommt es dann, dass es den Anschein hat, er verfolge ein Ziel, da er doch auf Anhieb alles hätte verwirklichen können? Warum hat er das Leid und das Böse zugelassen, die in seinem eigenen Wesen enthalten sind? Wenn das menschlich Böse den Menschen zugeschrieben wird, so kann die Ungerechtigkeit, die Tiere und Pflanzen trifft, allein der göttlichen Ordnung zugeschrieben werden. Warum hat die göttliche Ordnung nicht alles in der Freude eingerichtet? Nicht immer führt Leid zur Vollendung, es verursacht viel öfter unheilbare Verzweiflung.“

      Es ist nicht zu leugnen und wird von keiner spirituellen Erfahrung geleugnet, dass diese Welt weder ideal noch zufriedenstellend ist, da sie allzu deutlich vom Siegel der Unzulänglichkeit, des Leidens und des Bösen geprägt ist. Diese Erkenntnis ist gleichsam der Ausgangspunkt des spirituellen Strebens überhaupt – mit Ausnahme bei jenen wenigen, denen die höhere Erfahrung unmittelbar zuteil wird und die nicht zu ihr gezwungen werden durch das mächtige, unwiderlegbare, leidvolle und entsagende Wissen um jenen Schatten, der den gesamten Bereich dieses manifestierten Daseins überlagert. Dennoch bleibt die Frage offen, ob dies tatsächlich, wie behauptet wird, das wesentliche Merkmal der ganzen Manifestation ist oder ob es, zumindest solange es eine physische Welt gibt, notwendigerweise zu deren Natur gehört. Damit müsste man das Verlangen, geboren zu werden, den Willen, sich zu offenbaren oder schöpferisch auszudrücken als die Ursünde schlechthin betrachten und die Abkehr von Geburt oder Offenbarung als einzig möglichen Weg der Erlösung. Für diejenigen, die es derart oder ähnlich sehen – und sie sind immer in der Überzahl gewesen –, gibt es wohlbekannte Auswege und direkte Abkürzungen zu spiritueller Befreiung. Doch ebenso gut kann es sich anders verhalten und unserer Unwissenheit oder unserem begrenzten Wissen nur so erscheinen; die Unvollkommenheit, das Böse, das Leid könnten zwar ein bedrückender Umstand oder ein schmerzhafter Übergang sein, doch nicht die eigentliche Essenz des Geborenwerdens in der Natur. Wenn dem so ist, dann läge die höchste Weisheit nicht in der Flucht, sondern im Streben nach einem Sieg auf Erden, in einer bejahenden Verbindung mit dem Willen, der hinter der Welt steht, in einer Entdeckung der spirituellen Pforte zur Vollkommenheit, die gleichzeitig die Öffnung ist für die gänzliche Herabkunft des Göttlichen Lichtes und Wissens, der Göttlichen Macht und Glückseligkeit.

      Jede spirituelle Erfahrung bestätigt das Vorhandensein eines Bleibenden über der Vergänglichkeit dieser manifestierten Welt, in der wir leben, und über diesem beschränkten Dasein, in dessen engen Grenzen wir umherirren und uns mühen. Die Merkmale

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