Vom Verlust der Freiheit. Raymond Unger

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Vom Verlust der Freiheit - Raymond Unger

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Eltern ihre eigenen Kinder dazu missbrauchen, sich Zuwendung und Support zu holen, führen zur ›Parentifizierung‹. Der Begriff bedeutet ›sich Eltern machen‹, und zwar aus den eigenen Kindern. Dabei fühlen Kinder ganz instinktiv die Schwäche ihrer Eltern und wissen ganz genau, dass sie auf Gedeih und Verderb von ihnen abhängig sind. Deshalb tun Kinder nahezu alles, um ihre Eltern zu stützen. Man muss Kinder kaum aktiv in nicht-kindgerechte Rollen drängen, sie übernehmen wie von selbst eine ›Eltern-Funktion‹ gegenüber einem oder beiden Elternteilen, wenn sie die Familie bedroht sehen. Sie opfern ihr eigenes, kindgerechtes Leben zugunsten des Systems – zu einem schrecklichen Preis. Denn hiermit wird ein unseliger Kreislauf geschlossen, Parentifizierung vererbt sich weiter – in diesem Fall von den Kriegskindern auf die Babyboomer. […]

       Doppelbindung

       Der Prozess der Parentifizierung ist eng mit der Doppelbindungstheorie verknüpft. Ebenso wie Kinder instinktiv fühlen, dass sie in eine nicht gemäße Erwachsenenrolle schlüpfen, in der sie missbraucht werden, fühlen auch Eltern, dass es nicht okay ist, sich über Gebühr von ihren Kindern stützen zu lassen. Im Familiensystem bauen sich daher kommunikative Tabus auf, damit derartige Rollenumkehrungen nicht offengelegt werden. Hierbei kristallisieren sich typische, äußerst negative Kommunikationsmuster heraus, die man früher als Ursache für Schizophrenie in Betracht gezogen hatte. Obgleich sich diese These nicht bestätigen konnte, üben derartige Kommunikationsformen dennoch eine sehr lähmende Wirkung auf Schutzbefohlene aus. Zentrales Merkmal ist ein Machtgefälle und eine Abhängigkeit zwischen Erziehungsberechtigten und Kindern oder im Äquivalent zwischen Chefs und Angestellten. Kern des Problems sind paradoxe Signale oder Handlungsaufträge, die sich widersprechen, die aber dennoch eine Handlung einfordern, bei der sich der Schutzbefohlene in jedem Fall schuldig macht, ihn also in ein Dilemma stürzt. Perfiderweise sind die doppelten Botschaften oder Signale nicht sofort erkennbar, da sie sich mitunter auf unterschiedlichen Kommunikationsebenen abspielen. Möglicherweise gibt es einen verbalen Handlungsauftrag, der zugleich jedoch von einem nonverbalen Verbot (über Mimik und Gestik) begleitet wird. Der Sender (Elternteil) leitet damit einen eigenen ungelösten, ambivalenten Konflikt an den Empfänger (Kinder) weiter, zugleich ist der Vorgang natürlich in hohem Maße aggressiv. Für den Empfänger ist die Doppelbindung unauflösbar, weil er keine Wahl hat, den restriktiven Maßnahmen zu entgehen – er macht sich in jedem Fall schuldig. Zudem gibt es ein unausgesprochenes Verbot zur Metakommunikation, das heißt, es ist dem Empfänger strengstens untersagt, den Widersinn der Situation anzusprechen, denn damit würde er alles noch schlimmer machen. Da sich der Empfänger aufgrund seines Abhängigkeitsverhältnisses gezwungen sieht, der Aufforderung nachzukommen, und er die Situation nicht verlassen kann, erlebt er jede Double-Bind-Kommunikation als ohnmächtige Qual.« 12

      Zur Vertiefung dieser Pathomechanismen muss ich auf mein vorangegangenes Buch verweisen. In diesem Folgewerk ist mir eine Ergänzung wichtig, die ich für die Entstehung der großen politischen Narrative der Neuzeit für wesentlich halte: die internalisierte, toxische Scham nach John Bradshaw.

      Der Psychotherapeut und Bestsellerautor John Bradshaw stellt in seinen Standardwerken heraus, dass sich sämtliche der von mir beschriebenen Kriegsenkel-Pathomechanismen auf ein Grundfaktum reduzieren lassen: das Verlassenwerden. Alle missbräuchlichen Rollenmuster, in die Kinder von traumatisierten Kriegskinder-Eltern gedrängt werden, laufen schlussendlich auf dasselbe hinaus. Die für eine gesunde Entwicklung unbedingt erforderlichen Ingredienzien, nämlich Schutz, unverbrüchliche Liebe und Spiegelung des Okay-Seins der eigenen Gefühle und Bedürfnisse, aber auch eine notwendige, klare und liebevolle Limitierung eines mitunter ausufernden Kinderwillens bleiben aus. Das auf Gedeih und Verderb abhängige Kind wird von seinen Eltern emotional verlassen, was je nach Ausprägung als eine Art innerer Tod erlebt wird:

       »Scham wird internalisiert, wenn man verlassen wird. Verlassenheit ist der Begriff, der beschreibt, wie man sein echtes Selbst verliert und seelisch aufhört zu existieren. Kinder können nicht wissen, wer sie sind, wenn sie kein ›Feedback‹ bekommen. Dieses Feedback kommt von den Bezugspersonen und ist in den ersten fünf Lebensjahren von entscheidender Bedeutung. Verlassenwerden bedeutet gleichzeitig den Verlust des Feedbacks. Eltern, die sich seelisch abkapseln [und das tun alle schamgeprägten bzw. traumatisierten Eltern] können ihren Kindern weder Feedback geben noch deren Gefühle bestätigen. Da wir uns in der frühen Kindheit im präverbalen Bereich bewegt haben, hing alles von gefühlsmäßigen Interaktionen ab. Ohne jemanden zu haben, der unsere Gefühle widerspiegelte, konnten wir nicht wissen, wer wir waren. Dieses Widerspiegeln hat auch für unser späteres Leben eine große Bedeutung. Denken Sie einmal an das frustrierende Erlebnis, das jeder von uns schon einmal gehabt hat, wenn wir mit jemandem sprechen, der uns nicht ansieht. Während Sie reden, beschäftigt er sich mit irgendetwas anderem oder liest. Für unsere Identität ist der andere wichtig, der uns mit seinen Augen ziemlich genau so sieht, wie wir uns selbst sehen. […] Die Art, wie Gefühle, Bedürfnisse und natürliche, instinkthafte Triebe durch Scham gebunden werden, ist der entscheidende Faktor bei der Umwandlung der gesunden Scham in toxische Scham. Durch Scham gebunden zu sein bedeutet, dass man sich schämt, sobald man ein Gefühl, ein Bedürfnis oder einen Trieb empfindet. Die Dynamik des menschlichen Lebens setzt sich aus unseren Gefühlen, Bedürfnissen und Trieben zusammen. Wenn diese Komponenten durch Scham gebunden sind, empfindet man die Scham bis ins tiefste Innere.« 13

      Bradshaw beschreibt ein Phänomen, das andere Autoren im Kontext der transgenerationalen Weitergabe kriegsbelasteter Kindheiten als Syndrom der »Kühlschrankmutter« bezeichnet haben. Kriegskinder, die Eltern der Babyboomer, waren häufig nicht in der Lage, ihren eigenen Kindern emotionale und körperliche Nähe zu geben. Kindern wahrhaftig und emotional zu begegnen und dabei kindliche Gefühle wie Wut, Angst und Trauer zu spiegeln bedeutet zwangsläufig, Gefühle der eigenen Kindheit zu evozieren. Wenn sich Eltern, deren eigene Kindheit traumatisch war, auf diese wünschenswerte und notwenige Weise ihren Kindern nähern, erleben sie eine Retraumatisierung. Unbewusst und ohne böse Absicht wird die Erziehung der eigenen Kinder daher versachlicht. Die enorm wichtige Spiegelung authentischer Gefühle bleibt aus. Kinder, die auf diese Weise emotional vernachlässigt wurden, sehen die Gründe für die mangelnde Zuwendung jedoch niemals bei ihren Eltern, sondern einzig bei sich selbst. Sie halten sich für schuldig, wenig liebenswert und irgendwie nicht richtig.

       »Egozentrisches Denken bedeutet, dass ein Kind alles auf sich bezieht. Selbst wenn ein Elternteil stirbt, kann es sein, dass ein Kind das auf sich bezieht. Es sagt dann möglicherweise: ›Wenn Mami mich wirklich liebgehabt hätte, wäre sie nicht zum lieben Gott gegangen, sondern bei mir geblieben.‹ Denjenigen, die wir lieben, schenken wir Zeit. Der Schock, der dadurch entsteht, dass unsere Eltern uns nichts von ihrer Zeit schenken, erzeugt in uns ein Gefühl der Wertlosigkeit. Das Kind bedeutet den Eltern so wenig, dass sie ihm weder ihre Zeit noch ihre Aufmerksamkeit schenken oder sich seiner Erziehung widmen. Das egozentrische kleine Kind interpretiert Ereignisse egozentrisch. Wenn Mami und Papi nicht da sind, dann ist das meine Schuld. Mit mir stimmt irgendetwas nicht, sonst wären sie gern bei mir. Kinder sind egozentrisch, weil sie noch keine Gelegenheit hatten, ihr Ich abzugrenzen.« 14

      Tragischerweise vererben sich die aus diesem Mechanismus hervorgehenden Folgen, Selbstwertmangel und Selbstzweifel, von Generation zu Generation weiter. Man kann seinen eigenen Kindern keinen Selbstwert vermitteln, wenn man sich insgeheim selbst ablehnt. Obgleich Kinder in diesem systemischen Reigen immer die Opfer sind, sehen sie sich als Täter, wofür sie sich schämen; deshalb suchen sie nach Wegen der Wiedergutmachung, sie werden zu »Wiedergutmachern«. Hauptproblem der internalisierten toxischen Scham ist jedoch, dass jeglicher Versuch der Wiedergutmachung in einem Teufelskreis endet, denn hier zeigt sich auch der Unterschied zwischen Schuld und Scham: Schuldgefühle entstehen im Abgleich eines etwaigen (Fehl-)Verhaltens, im Widerspruch zu inneren Wertvorstellungen. Ein erkanntes falsches Verhalten

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