Vom Verlust der Freiheit. Raymond Unger
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Schamgebundene Erwachsene, die ihr wahres Selbst und damit ihren inneren, gegebenen Wert als Mensch nicht kennen, sind gezwungen, über äußere Leistungen und Erfolge Anerkennung zu erreichen. Dieses Muster galt ja bereits während der Parentifizierung in der Kindheit: Emotional verlassene Kinder tun für ihre Eltern alles, um ein wenig Anerkennung zu bekommen. Schlussendlich führt dieser Prozess zu einer narzisstischen Persönlichkeit, die Person wird immer egozentrierter und interessiert sich in Wahrheit nicht mehr wirklich für andere Menschen. Transaktionsanalytisch betrachtet, ist das internalisierte Gefühl von »ich bin nicht okay« irgendwann umgeschlagen in »ich bin besser als du«. Narzissten glauben, dass sie mehr Anerkennung und Wertschätzung verdienen als andere. Von außen gesehen, kann der Wesenszug, mit großer Selbstverständlichkeit Zuspruch zu erwarten, leicht mit Selbstvertrauen verwechselt werden. Doch das Gegenteil ist der Fall. Trotz Umkehr der inneren Selbsteinschätzung vom Verlierer zum Gewinner müssen Narzissten Brüskierung und seelischen Schmerz bekämpfen. In der Regel geschieht dies durch Projektion.
»Projektion ist einer der primitivsten Abwehrmechanismen. Ihre dramatischsten Manifestationen sind die Wahnvorstellungen und Halluzinationen. Wenn wir von Scham geprägt sind, ist die Projektion unvermeidlich. Alle unsere Gefühle, Wünsche, Bedürfnisse und Triebe, die wir verleugnen, suchen dringend nach einer Ausdrucksmöglichkeit, denn sie sind lebenswichtige Teile unseres selbst. Man kann das Problem lösen, indem man die Gefühle, Wünsche usw. anderen zuschreibt. Wenn ich meinen eigenen Zorn verleugne, kann ich ihn auf einen anderen Menschen projizieren. Es könnte dann passieren, dass ich Sie frage, warum Sie wütend sind. […] Projektion wird eingesetzt, wenn die Verdrängung versagt. Sie ist eine der wichtigsten Ursachen für Konflikte und Feindseligkeiten im menschlichen Zusammenleben.« 15
Als Moralisten mit erhobenem Zeigefinger beginnen toxisch Beschämte, Andersdenkende, die weniger konformistisch und letztlich gesünder sind als sie selbst, auf schamlose Weise zu beschämen. Aufgrund des hohen, aber verleugneten Leidensdruckes entwickeln viele Betroffene dabei ungeahnte Energien und Fähigkeiten. Bereits innerhalb des dysfunktionalen Familiensystems vieler Kriegsenkel war ein Überleben nur deshalb möglich, weil spezielle Fähigkeiten der Anpassung und Manipulation erlernt wurden. Um die eigene Kindheit betrogen, erforderten co-abhängiges Verhalten und Parentifizierung enorme soziale Fähigkeiten, die sich im heutigen Werte-Kanon hervorragend zur sozialen Machtorganisation eignen. John Bradshaw hat, ohne es zu ahnen, in seinem Buch über die toxische Scham den Prototyp vieler deutscher Haltungsjournalisten, Kirchenvertreter und linksgrüner Politiker beschrieben. In seinem Kapitel »Die persönlichkeitsspezifischen Stile der Schamlosigkeit« zählt er sämtliche Charaktereigenschaften der zeitgenössischen Hypermoralisten und Normopathen auf:
»Eine dritte Schutzschicht gegen das Gefühl der toxischen Scham besteht daraus, dass man ›schamlos‹ handelt. Das ist ein weitverbreitetes Verhaltensmuster schamgeprägter Eltern, Lehrer, selbstgerechter Menschen und Politiker. Zum schamlosen Handeln gehören verschiedene Verhaltensweisen, die den Zweck haben, das Gefühl der Scham zu verändern und die eigene toxische Scham auf eine andere Person zu übertragen. Die Transaktionstheoretiker nennen diesen Vorgang ›heiße Kartoffel‹. Solche Verhaltensweisen stellen einen Abwehrmechanismus gegen den Schmerz der toxischen Scham dar, führen zu Stimmungsveränderungen und machen süchtig. Zu ihnen zählen Perfektionismus, Streben nach Macht und Kontrolle, Wut, Arroganz, Kritik und Tadel, Verurteilung anderer, Moralisieren, Verachtung, gönnerhaftes Verhalten, Sich-Kümmern und Helfen, Neid, Nettigkeit und Gefälligkeit. Alle diese Verhaltensweisen sind auf andere Menschen konzentriert und lenken vom der eigenen Person ab. […] Das Streben nach Macht ist ein direkter Versuch, Minderwertigkeitsgefühle zu kompensieren. Wenn man Macht über andere hat, kann man nicht so leicht der Scham ausgesetzt werden. Das Machtstreben wird häufig zu einer Lebensaufgabe, der sich ein Mensch total verschreibt. In seiner neurotischsten Form wird es zu einer absoluten Sucht. Die Menschen widmen dann ihre ganze Kraft der Aufgabe, durch raffinierte Manöver eine Position zu ergattern, vor der aus sie die Leiter des Erfolgs weiter nach oben klettern können. […] Eltern, Lehrer, Doktoren, Rechtsanwälte, Pfarrer, Rabbiner und Politiker spielen Rollen, die etwas mit Macht zu tun haben.
Die Leute, die mit der Macht spielen, versuchen ständig, ihre Macht über andere auszudehnen. Sie suchen sich häufig Berufe aus, die ihnen Macht geben, und sichern ihre Position ab, indem sie andere Leute für sich arbeiten lassen, die schwächer und weniger selbstsicher sind. Solche Menschen sind absolut nicht in der Lage, die Macht mit anderen zu teilen. Eine Teilung der Macht würde Gleichheit bedeuten –und sie können sich nur gut fühlen, wenn sie anderen überlegen sind. Für den Machthungrigen bedeutet Macht ein Mittel, sich gegen weitere Scham abzusichern. Dadurch, dass man Macht über andere hat, kann man die Rolle umkehren, die man in der frühen Kindheit gespielt hat. Zu den Strategien der Macht gehört oft auch, dass man versucht, sich in aktiver Weise zu rächen.« 15A
Bradshaw skizziert mit dem schamgebundenen Charakter den Prototyp des erfolgreichen Mainstreamkarrieristen, der insbesondere eine zentrale Machttechnik beherrscht: Politische Korrektheit. Im Kapitel Gender komme ich darauf zurück. Insbesondere bei vielen Vertretern der Kunst-, Medien- und Politiker-Eliten fällt dieser Typus auf. Dieser Charakter dominiert weder durch Schönheit, Charme, Fachkenntnis oder Intelligenz, sondern durch soziale Bauernschläue und Ausdauer. Politische und ideologische Gegner werden mit großer Treffsicherheit verblüfft und unter Zuhilfenahme von Moralen und jenseits der Fakten effektiv diskreditiert und beschämt. Vortrefflich studieren lässt sich diese Methodik in vielen Talkshows der öffentlich-rechtlichen Sender. Hier werden missliebige Positionen entweder gar nicht erst zugelassen, oder deren Vertreter werden brüsk unterbrochen, moralisch belehrt und beschämt. Und wehe ein Journalist handelt einmal nicht im Sinne der politisch korrekten Direktive und lässt ideologischen Gegnern etwas Raum für die eigene Meinung … Das Mindeste sind nachträgliche Entschuldigungen, möglicherweise ist der nicht ganz linientreue Journalist aber auch gleich seinen Job los. Gewinner auf der politisch-medialen Bühne sind insbesondere jene Typen von Babyboomern, die früh gelernt haben, wie man unliebsame innere Affekte und Ambivalenzen über Projektionen loswird. Wer den Kontakt zu seinem wahren Selbst verloren hat, ist ohnehin nicht sonderlich zimperlich und nicht gerade ein Ausbund an Empathie. Übertriebene, gespielte Empathie für Minderheiten und Randgruppen dient eher dem eigenen Machtausbau und stellt einen Missbrauch der wirklich Hilfsbedürftigen dar.
Fazit: Toxische Scham lässt sich effektiv übertagen, indem man den internalisierten Anteil, der einen permanent selbst beschämt, auf andere umlenkt. Die unliebsame innere Stimme, die einen moralisch diskeditiert, belehrt und maßregelt, richtet sich fortan auf politische und ideologische Gegner. Als Nebeneffekt lässt sich das Kleinmachen anderer als persönlicher Machtgewinn nutzen.
Schuldstolz und Identität
»Paradoxerweise gelingt Identitätsbildung im Falle Deutschlands nicht durch die Produktion von Stolz auf Errungenschaften, sondern durch die Akzeptanz eigentlich unakzeptierbarer Schande und das Eingeständnis eigentlich uneingestehbarer Schuld. So wird auf nahezu geniale Weise Schande zu Ruhm ›rezykliert‹. Mit postheroischer Grandeur wird Schuld in Schuldstolz verwandelt. Schuldstolz ist ein moralischer Stolz darauf, die Kraft zu haben, die größtmögliche Schuld zu verinnerlichen und sich mit der Verantwortung dafür zu identifizieren.« 16
Das transgenerationale Kriegstrauma erzeugt zwei innerpsychische Grundverfassungen:
1. Internalisierte Scham- und Schuldgefühle
2. Ein unendlich bedürftiges Ego
Der