Vom Verlust der Freiheit. Raymond Unger

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Vom Verlust der Freiheit - Raymond Unger

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konservative Kräfte bekommen.

      Wie also kommt es zum deutschen Starrsinn, der ungeachtet von Erfahrungen und Fakten um jeden Preis einen Wiedergutmacherkurs halten will? Welche psychologischen Mechanismen tragen diese narzisstische Grandiosität, gepaart mit infantilem Selbsthass und abgründigem Selbstzerstörungswillen? Bezüglich der Betroffenheit von kriegstraumatisierten Kindern und damit auch der Betroffenheit über die Weitergabe dieses Traumas an die Folgegeneration, hat Deutschland im Vergleich zu anderen westlichen Nationen durchaus Sonderstatus. In Die Wiedergutmacher schrieb ich dazu:

       »Schaut man sich die Entscheider und Protagonisten der aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen in Deutschland näher an, stößt man unweigerlich auf die Generation der Babyboomer. An den Schaltstellen der Macht, politisch, medial und kulturell, sitzen die Geburtenjahrgänge von 1955 bis 1970. Ich gehöre selbst dazu und bin als Autor und bildender Künstler ein Vertreter des kulturellen Flügels. Im ersten Teil dieses Buches möchte ich die Besonderheiten meiner Generation skizzieren, die sich gegenüber Amerikanern, Briten, Franzosen und vielen anderen westlichen Demokratien doch erheblich unterscheidet. Denn nicht nur die viel beschriebene Schuld und Täterschaft der Deutschen während des Zweiten Weltkrieges ist einzigartig, sondern gemessen am Rückbranden des Kriegsgeschehens auf deutschen Boden hat auch die deutsche Bevölkerung im Vergleich zu anderen westlichen Staaten eine ungleich höhere Zahl persönlicher und struktureller Schäden zu beklagen. Während die zivilen Toten der Staaten aus Übersee naturgemäß gegen null gehen, beklagt Deutschland allein 1,2 Millionen tote Zivilisten, darunter viele Frauen und Kinder. Doch zunächst ein Vergleich der absoluten Kriegstoten einiger westlicher Nationen, Zahlen, die betroffen machen: USA: 400000, Frankreich: 360000, Großbritannien: 330000, Kanada: 40000, Australien: 30000, Deutschland jedoch: 6,4 Mio. Tote. Hinzu kommt das kollektive Trauma durch den Heimatverlust von 12–14 Mio. Deutschen, die gewaltsam aus den ostdeutschen Gebieten vertrieben wurden. Vor allem Frauen, Kinder und Greise erlebten auf ihrer überstürzten Flucht im Winter 1945 die Hölle. Zu den über 6 Mio. Kriegstoten und den 12 Mio. Vertriebenen kommen noch einmal 2 Mio. deutsche Frauen und junge Mädchen hinzu, die von der systematischen Massenvergewaltigung durch russische Soldaten betroffen waren. […] In den USA, England oder Frankreich gibt es diese nahezu flächendeckende persönliche Betroffenheit durch Täter- oder Opferschaft de facto nicht. Denn rechnet man obige Zahlen der persönlich betroffenen Deutschen hoch, so gibt es in nahezu jeder deutschen Familie wenigstens ein Familienmitglied, das getötet, verwundet oder vergewaltigt wurde. Zudem ist ja völlig klar, dass es innerhalb der betroffenen Generation eine kaum zu bemessende Anzahl geleugneter Täterschaft gibt, das heißt, eine saubere Trennlinie zwischen ›Opfern‹ und ›Tätern‹ lässt sich in einem Gewaltraum so gut wie niemals ziehen. Deutschland bis 1945 als ebendiesen Gewaltraum zu erkennen, in dem sowohl durch Opferschaft als auch durch Täterschaft eine nahezu flächendeckende Betroffenheit der Bevölkerung gegeben war, ist für das weitere Verständnis dieses Buches unerlässlich. Deutsche Babyboomer sind nicht einfach nette, unbelastete, lebensfrohe Fünfzigjährige wie in anderen westlichen Demokratien auch. Sie sind die Kinder von Eltern, die als Kinder um ihr Leben rannten, auf der Flucht aus dem Osten. Sie sind die Kinder von Eltern, die in Bunkern der Großstädte zitterten oder mit ansehen mussten, wie Eltern, Geschwister oder Freunde verbrannten oder vergewaltigt wurden. Deutsche Babyboomer sind die Kinder von Vätern, die bei den Pimpfen oder der Hitlerjugend lernten, dass deutsche Männer zäh, flink und hart sein müssen. Sie sind die Kinder von Müttern, die beim Jungmädelbund oder Bund Deutscher Mädel (BDM) lernten, dass das Schlachtfeld einer tapferen deutschen Mutter das Kindbett ist. Deutsche Babyboomer sind die Kinder von Eltern, die ohne Väter aufwuchsen oder deren Väter körperlich oder seelisch so verwundet waren, dass sie ihren Kindern niemals nahekommen konnten. Babyboomer sind die Kinder von Kindern, die von kalten, verbitterten Müttern erzogen wurden, die alles verloren hatten, oftmals auch die Liebe zu ihrem eigenen Körper. Und – deutsche Babyboomer sind die Enkel von Großeltern, die einem verbrecherischen Regime zujubelten, die von Stalingrad bis El-Alamein Krieg führten und die Menschen wegen ihrer Abstammung oder persönlicher Merkmale ausgrenzten und töteten.« 11A

      Da nicht jeder Leser mein vorangegangenes Buch kennt, möchte ich zunächst kurz drei psychologische Pathomechanismen auffrischen. Diese Mechanismen sind für das Nicht-erwachsen-Werden vieler Babyboomer, den heutigen Entscheidern in Medien, Politik und Kultur, mitverantwortlich:

       Misslungene Triangulierung

       »Viele Psychologen, die sich mit der Reife meiner Generation beschäftigen, halten 80 Prozent der deutschen Babyboomer-Männer für ›mangelhaft trianguliert‹. Was nichts anderes bedeutet als ›Kind geblieben‹. […] Vorab und verkürzt gesagt: Misslungene Triangulierung führt zu einem Mutterkomplex. […] Die Konflikte in der Ich-Werdung gestalten sich bei Jungen komplexer als bei Mädchen, denn ein Hineinwachsen in die eigene Geschlechterrolle wird als größerer Verrat an der Mutter erlebt. Aufgespannt zwischen Selbstentdeckung und Loyalität zur Mutter entsteht ein großes Aggressionspotenzial, denn die Loslösung von der weiblichen Identifikation zugunsten einer noch fremden Identität wird als große Bedrohung erlebt. Irgendwann versuchen kleine Jungen, diesen Konflikt ödipal zu lösen, indem sie ihre Mutter begehren. Nach Meinung vieler Analytiker lässt sich dieser Konflikt für Jungen jedoch nur dann befriedend lösen, wenn eine ›triangulierende dritte Person‹ hinzutritt – der Vater. Erst das Entdecken des Vaters als neue, männliche Identifikationsfläche, aber auch als Schutz gegen den vermeintlichen Verlust der Mutter erlaubt es kleinen Jungs, ihren symbiotischen Konflikt auf gesunde Weise zu lösen. […] Wenn kein Vater als Identifikationsfigur verfügbar ist, besteht die Gefahr, dass ein sogenannter ›Puer-aeturnus-Komplex‹ (nach C. G. Jung) ausgebildet wird. Der Komplex beschreibt Männer, die auch in der Lebensmitte die innerpsychische Reife von Teenagern behalten. Der ewige Jüngling ›führt typischerweise ein provisorisches Leben wegen seiner Angst, in einer Situation gefangen zu werden, aus der er nicht mehr entkommen kann. Er begehrt Unabhängigkeit und Freiheit, reibt sich an Grenzen und neigt dazu, jede Einschränkung unerträglich zu finden.‹ Nicht zufällig entspricht die psychologische Beschreibung des Puer-aeturnus-Komplexes ziemlich genau den Beschreibungen des typischen Babyboomer-Mannes in der klassischen Kriegsenkel-Literatur. […] In den meisten Fällen unreifer Babyboomer-Männer lässt sich tatsächlich ein abwesender oder persönlich schwacher Vater nachweisen, der allenfalls physisch anwesend war, aber dennoch emotional unerreichbar blieb. Viele Väter meiner Generation waren als Kriegskinder traumatisiert worden. Emotionale Nähe zu ihren leiblichen Kindern löste bei vielen Vätern der Kriegskind-Generation eine Abwehrreaktion aus, denn Emotionalität war ein Trigger zur Rückerinnerung an die eigene Kindheit. […]

       Parentifizierung

       Insbesondere in Bezug auf die Rolle kleiner Jungen in Familiensystemen ergibt sich aufgrund der häufig abwesenden Väter ein besonderer Pathomechanismus der Parentifizierung, den ich ›Kronprinzeffekt‹ nenne. Wegen der Infantilität ihrer Männer waren viele Frauen der Kriegskind-Generation in ihrer Mutter- und Elternrolle überfordert. Was eine angemessene Verantwortung für das Familiensystem angeht, so entwickelte sich der emotional abwesende, kindische Mann nicht selten zum Totalausfall. Durch Arbeitssucht, Alkoholismus oder übertriebene Hobbys ihrer Männer fühlten sich viele Frauen enttäuscht und im Stich gelassen. Die Zuwendungen und Bestätigungen holten sich daher viele Kriegskinder-Mütter von ihren Babyboomer-Söhnen, die als ›Ersatzmänner‹ fungierten. Realer sexueller Missbrauch war hierbei sicherlich eher eine Ausnahmeerscheinung, dennoch entwickelten viele Kronprinzen ungesunde Solidarisierungen mit der Mutter gegen den Vater, was die enge Mutterbindung noch weiter zementierte. Töchter solidarisierten sich natürlich ebenso mit ihren Müttern, was jedoch nicht ganz so unnatürlich erschien. Nicht selten entstand eine typische Frontlinie: Mutter und Kinder auf der einen Seite – der einsame Vater auf der anderen Seite, was den Rückzug der Väter natürlich noch weiter vergrößerte. […] Von Parentifizierung im Familiensystem sind natürlich auch Mädchen

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