Im Reich der hungrigen Geister. Gabor Mate
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Are but a parable,
Earth’s insufficiency
Here finds fulfillment.
The ineffable
Wins life through love.
The eternal feminine
Leads us above
[Alles Vergängliche
Ist nur ein Gleichnis;
Das Unzulängliche,
Hier wird’s Ereignis;
Das Unbeschreibliche,
Hier ist’s getan;
Das Ewig-Weibliche
Zieht uns hinan.]
Er trägt die Verse ohne die übliche Hast vor, seine Stimme ist weich und sanft.
Als ich an diesem Abend wieder zu Hause bin, nehme ich Faust II aus dem Bücherregal und blättere zur letzten Seite. Da steht es: Goethes Lobgesang auf die spirituelle Erleuchtung, die selige Vereinigung des menschlichen Geistes mit dem weiblichen Prinzip, mit der göttlichen Liebe. Goethe stellt, wie Dante in Die Göttliche Komödie, die göttliche Liebe als weibliche Eigenschaft dar. Ich finde Ralphs Übersetzung von Goethe, sei es seine eigene oder eine auswendig gelernte, bewegender als die Version, die ich in meinen Händen halte.
Während ich die Verse des großen deutschen Dichters in meinem gemütlichen Zuhause in einem gehobenen, grünen Vancouver-Viertel lese, kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass Ralph, unterstützt von seinem Stock, in diesem Moment irgendwo in der düsteren und schmutzigen Hastings unterwegs ist und es ihn nach seinem nächsten Kokain-Trip drängt. Und in seinem Herzen wünscht er sich Schönheit, nicht weniger als ich, und braucht Liebe, genau wie ich.
Wenn ich ihn richtig verstehe, sehnt sich Ralph vor allem nach der Einheit mit der ewig weiblichen caritas – der gesegneten, seelenrettenden göttlichen Liebe. Göttlich bezieht sich hier nicht auf eine übernatürliche Gottheit, sondern auf die unsterbliche Quintessenz der Existenz, die es in uns, durch uns und über uns hinaus gibt. Religionen mögen darin einen Gottesglauben erkennen, aber die Suche nach dem Ewigen geht weit über bekannte religiöse Konzepte hinaus.
Eine Folge spiritueller Entbehrung ist die Sucht, und zwar nicht nur nach Drogen. Auf Konferenzen, die der wissenschaftsbasierten Suchtmedizin gewidmet sind, gibt es immer häufiger Vorträge über den spirituellen Aspekt von Süchten und deren Behandlung. Gegenstand, Form und Schwere von Süchten werden durch viele Einflüsse geprägt – durch die sozialen, politischen und wirtschaftlichen Umstände, die persönliche und familiäre Geschichte sowie physiologische und genetische Veranlagungen –, doch im Kern aller Abhängigkeiten gibt es eine spirituelle Leere. Im Fall von Serena, der Ureinwohnerin von Kelowna, entstand diese Leere durch den unerträglichen Missbrauch, den sie als Kind erlitt – ein Thema, auf das ich später zurückkommen werde. Aber an dieser Stelle genügt es zu sagen, dass Ralph seine Gottessehnsucht, wenn ich sie nicht schon bei seinem Goethe-Rezital gespürt hätte, ein paar Monate später wortreich bestätigte. Aus tiefster Seele sehnt er sich danach, sich mit derselben weiblichen Qualität in seinem Inneren zu verbinden, die seine Streitsüchtigkeit und ungezügelte Aggressivität so bösartig mit Füßen tritt.
Bald darauf, vielleicht schon beim nächsten Termin, muss ich mir wieder Arbeit macht frei, Schmutziger Jude, Heil Hitler anhören. „Steck dir dein Morphium in den Arsch“, schreit Ralph mit einer Stimme wie Schmirgelpapier. „Geben Sie mir Ritalin. Geben Sie mir Kokain. Geben Sie mir Xylocain!“ Er könnte genauso gut sagen: „Geben Sie mir Freiheit oder geben Sie mir den Tod.“ Drogen sind die einzige Freiheit, die er kennt.
———
Durch Blut übertragene bakterielle Infektionen sind häufige Komplikationen des Drogenkonsums, insbesondere angesichts des schlechten hygienischen Zustands vieler Süchtiger in Downtown Eastside. Letztes Jahr wurde Ralph ins Krankenhaus eingeliefert, wo er zwei Monate lang intravenös mit hochwirksamen Antibiotika behandelt werden musste, um eine lebensbedrohliche Sepsis zu heilen.
Gegen Ende seiner Behandlung besuche ich ihn auf der Station im Krankenhaus von Vancouver. Dort treffe ich auf eine Person, die ganz anders ist als der wütende, feindselige Pseudo-Nazi aus meiner Praxis. Er liegt auf dem Rücken, das Kopfteil des Krankenhausbettes leicht erhöht, und ist bis zur Taille mit einem weißen Laken bedeckt. Sein dürrer Brustkorb und seine oberen Gliedmaßen sind entblößt. Sein geschecktes Haar ist nun ordentlich geschnitten und bildet eine kurze Tonsur über seinen rasierten Schläfen. Er winkt mir zur Begrüßung mit seinem linken Arm.
Wir beginnen, über seinen Gesundheitszustand und seine Pläne für die Zeit nach seiner Entlassung zu reden. Ich hoffe, dass ich ihm helfen kann, eine Unterkunft abseits der Drogenszene zu finden. Ralph ist zunächst ambivalent, stimmt aber schließlich zu, dass es eine gute Idee wäre, sich vom Downtown Eastside fernzuhalten.
„Ich bin froh, dass Sie gekommen sind“, sagt er mir. „Daniel war auch da. Wir hatten ein gutes Gespräch.“ Zu dieser Zeit war mein Sohn Daniel als Mitarbeiter für psychische Gesundheit im Portland angestellt. Er besuchte Ralph als Musiker und Songschreiber im Krankenhaus, und die beiden nahmen zusammen fast eine Stunde lang Lieder von Bob Dylan auf. Dabei spielt und zupft Daniel auf seiner Gitarre zu Ralphs rohem, kratzigem Halbbariton. Als Sänger beherrscht Ralph die Melodien erstaunlich unsicher, aber er hat ein Gespür für die emotionale Resonanz von Dylans Texten und seiner Musik.
„Ich entschuldige mich für das, was ich zu Daniel gesagt habe, und ich entschuldige mich bei Ihnen, für den ‚Arbeit macht frei‘-Mist.“
„Ich bin neugierig. Was bedeutet das alles für Sie?“
„Es geht nur um Überlegenheit. Ich glaube sowieso nicht daran. Keine Rasse ist einer anderen überlegen. Vor Gott sind alle Menschen gleich … es ist sowieso egal. Es sind nur Dinge, die einem durch den Kopf gehen. Ich bin im Umfeld des Nationalsozialismus aufgewachsen, so wie Sie auch, nur dass Sie sich auf der anderen Seite befanden. Das war eine unglückselige Situation. Ich entschuldige mich für alles, was ich gegen Sie und Ihren Sohn gesagt habe. Ich wünsche mir echt, bald hier raus zu sein, damit Daniel und ich mehr Musik machen können.“
„Wissen Sie, was mir am meisten Sorge macht, ist, dass es Sie isoliert. Ich schätze, Sie haben gelernt, in der Welt zurechtzukommen, indem Sie extrem feindselig waren.“
„Ich schätze, das stimmt.“ Wenn Ralph emotional bewegt ist, so wie jetzt, wölbt sich die Haut über seinen Unterarmmuskeln wie bei einem Beutel voller Murmeln. „Denn die Leute haben mich schlecht behandelt und … und man lernt, sie auch schlecht zu behandeln. Das ist eine der Möglichkeiten. Es ist nicht der einzige Weg …“
„Das ist ziemlich normal“, sage ich. „Und manchmal kann ich selbst auch ziemlich arrogant sein.“
„Super. Alles, was ich wirklich will … Es ging immer um die Drogen. Ich wollte kein Morphium … Ich wollte Xylocain. Das hätte all meine Probleme gelöst … Es hätte nichts mehr gegeben, wonach es mich gedrängt hätte, nichts, wonach ich auf der Suche gewesen wäre. Es hätte alles gelöst.“
Ralph erklärt auf sehr komplizierte Weise, wie man Xylocain, ein Lokalanästhetikum, zur Inhalation vorbereitet, indem man es mit Backsoda und destilliertem Wasser mischt. Die erhitzte Mischung wird durch