Im Reich der hungrigen Geister. Gabor Mate
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Читать онлайн книгу Im Reich der hungrigen Geister - Gabor Mate страница 31
„All diese Leute in der Hastings Street und Pender Street und in Downtown Eastside blasen es durch den Mund aus. Das ist lächerlich. Es hat überhaupt keine Wirkung. Um es richtig zu verstoffwechseln, muss es durch die Drüsen der Nasenschleimhaut ins Gehirn gelangen. Wenn es das Gehirn erreicht, wird es verstoffwechselt und blockiert die kleinen Kapillaren, die zu den Gehirnzellen führen …“
„Was empfinden Sie, wenn Sie das tun?“
„Es befreit mich von meinen Schmerzen und meiner Angst. Es nimmt mir meinen Frust. Es gibt mir die reine Essenz des Homunkulus … Sie wissen schon, des Homunkulus im Faust.“
In Goethes epischem Drama ist der Homunkulus ein kleines, in einem Laborkolben erdachtes Wesen aus Feuer. Es ist eine männliche Figur, die sich freiwillig mit dem weiten Ozean, dem göttlich-weiblichen Aspekt der Seele, vereinigt. Nach den mystischen Traditionen aller Glaubensrichtungen und Philosophien ist es ohne eine solche Ego-auflösende Unterwerfung unmöglich, spirituelle Erleuchtung zu erlangen, „den Frieden Gottes, der allen Verstand übersteigt“. Ralph sehnt sich nach nichts weniger.
„Der Homunkulus“, fährt er fort, „ist die Figur, die all das verkörpert, was ich gewesen wäre, wenn ich die Möglichkeit gehabt hätte, so zu sein. Aber die hatte ich nicht. Deshalb nehme ich jetzt Xylocain, wenn ich es kriegen kann, oder Kokain, wenn ich es nicht bekomme.“
Ralph hofft, durch das Rauchen einer Glaspfeife einen friedlichen Bewusstseinszustand zu erlangen. „Ich kann nicht der Homunkulus sein“, sagt er, „daher muss ich ein Süchtiger sein.“
„Wie lange hält dieser Effekt an?“, frage ich.
„Fünf Minuten“, sagt er. „Es sollte nicht vierzig Mäuse kosten, nur um den Schmerz für fünf Minuten abzutöten. Und für fünf Minuten Atempause schlage ich mich auf der Hastings Street herum, rauf und runter, rauf und runter, spreche mit meinen Kumpels und erpresse etwas Geld von ihnen. ‚Hör zu, Kumpel, her mit dem Geld, sonst kriegst du einen mit meinem Stock übergezogen.‘„
Unter dem Laken zittert Ralphs nach zwei Monaten Ruhe und Krankenhauspflege etwas voller gewordener Bauch vor Vergnügen, als er von seinem haarsträubenden krummbeinigen Banditentum erzählt. „Meine Kumpel lachen und geben mir ein paar Münzen. Ich habe eine Menge Freunde. Und ich bettle auch. Aber ich muss stundenlang da draußen herumhetzen, nur um den Schmerz für fünf Minuten zu betäuben.“
„Also sind Sie stundenlang beschäftigt, um fünf Minuten lang Erleichterung zu bekommen.“
„Ja, und dann gehe ich wieder raus, und wieder und wieder.“
„Was ist das für ein Schmerz, den Sie abtöten wollen?“
„Zum Teil ist er körperlich, zum Teil emotional. Körperlich auf jeden Fall. Wenn ich etwas Kokain hätte, würde ich jetzt aus diesem Bett steigen und draußen eine Zigarette rauchen.“
Ich sehe, dass Ralph einen vorübergehenden Nutzen aus seinem Drogenkonsum zieht, und sage es ihm auch. Aber erkennt er nicht die negativen Auswirkungen auf sein Leben? Er ist jetzt seit zwei Monaten im Krankenhaus, nachdem er kurz vor knapp eingeliefert worden war, ganz zu schweigen von seinen Zusammenstößen mit dem Gesetz und dem ganzen anderen Elend.
„All die Zeit und Energie, die Sie aufwenden müssen, um diesen fünf Minuten nachzujagen – ist es das wert? Seien wir ehrlich, die Art und Weise, wie Sie jetzt mit mir sprechen, ist ganz anders als wie Sie sich in Downtown Eastside gebärden, wenn Sie Drogen nehmen, wenn es Ihnen schlecht geht und Sie unglücklich und feindselig sind. Sie provozieren die ablehnende Haltung der Menschen Ihnen gegenüber. Vielleicht ist es nicht Ihre Absicht, aber so ist es. Es hat eine enorme negative Wirkung. Sind es diese fünf Minuten wert?“
In seinem gegenwärtigen drogenfreien Zustand und in seiner freundlichen Stimmung bringt Ralph kein Argument hervor. „Ich verstehe, was Sie sagen, und ich stimme Ihnen hundertprozentig zu. Ich bin die Dinge stumpfsinnig angegangen …“
„Ich würde es nicht einmal stumpfsinnig nennen“, antworte ich. „Ich denke, Sie sind die Dinge so angegangen, wie Sie es gelernt haben. Ich vermute, dass die Welt Sie von frühester Kindheit an nicht sehr gut behandelt hat. Was ist mit Ihnen geschehen? Was hat Sie so defensiv gemacht?“
„Ich weiß nicht … Mein Vater. Mein Vater ist ein gemeiner, mieser Mensch, und ich hasse ihn abgrundtief.“ Ralph spuckt die Worte aus. Unter dem Laken zittern seine Beine heftig. „Wenn es einen Menschen auf dieser Welt gibt, den ich verabscheue, dann ist es dieser Mann, der … mein Vater sein musste. Ach, es ist egal. Er ist jetzt ein alter Mann, und er kann für seine Verbrechen nicht mehr büßen, als er es bereits getan hat. Er hat schon tausendmal dafür bezahlt.“
„Ich glaube, das tun alle.“
„Ich weiß“, knurrt Ralph. „Ich habe auch für meine Verbrechen bezahlt. Sehen Sie mich an. Ich kann ohne diesen blöden Stock nicht mal laufen. Ich will fliegen und hänge am Boden fest, weil … Irgendwann erzähle ich es Ihnen …“
Dann beginnen wir, über etwas anderes zu reden. Ralph übt eine kluge, intuitive und scharfsinnige Kritik an der alltäglichen menschlichen Existenz und an der gesellschaftlichen Besessenheit von Zielen, die sich seiner Meinung nach nur wenig von seinem eigenen Streben nach Drogen unterscheidet. Ich erkenne in seiner Analyse eine unbequeme Wahrheit, ganz gleich, wie unvollständig sie ist.
Wir trennen uns in gutem Einvernehmen. „Ich würde mich freuen, wenn Daniel noch mal kommt“, sagt Ralph, „und ich hoffe, er bringt dann einen Videorekorder mit. Daniel könnte bei ein paar Liedern ein Intro spielen und mich begleiten – ich bin der bessere Sänger, wissen Sie. Wir könnten weitere Dylan-Songs oder ‚Homeward Bound‘ von Simon und Garfunkel singen. Sie sind alle Juden. Dadurch verschwand mein Antisemitismus, denn viele der größten poetischen Köpfe sind Juden: Bob Dylan, Paul Simon, John Lennon – wenn es diese Leute nicht gäbe, wäre die Welt ein weitaus schlimmerer Ort.“
Ich teile ihm nur ungern mit, dass John Lennon kein Jude war.
———
Seine Pläne, sich eine neue Bleibe zu suchen, wurden nicht verwirklicht. Kurz nach unserem zivilisierten Austausch im Krankenhaus von Vancouver nahm Ralph sein Leben in Downtown Eastside wieder auf. Seit die Drogen wieder Teil seines Lebens geworden waren, war er wieder zu der unberechenbaren, verbitterten Persönlichkeit zurückgekehrt, die er nur sporadisch ablegen konnte. Vor nicht allzu langer Zeit kam er in meine Praxis, um weitere Gedichte vorzutragen.
„Hier ist eins, das Ihnen gefallen wird“, sagt er und beginnt mit seinem schnellen, mechanischen Dröhnen.
Mir gefällt die erbärmliche Ehrlichkeit von Ralphs Versen. Die Binnenreime, die er in jedes Verspaar einfügt, verstärken die atmosphärisch dichte und erstickende Logik der Welt des Vortragenden. Alles passt zusammen: die vergebliche Suche nach Kameradschaft, die sexuelle Frustration, Entfremdung, Flucht in Drogen, Trauer, das Pathos und der Zynismus.
„Schreiben Sie immer noch?“, frage ich.
„Nein.“ Er wischt mit einer resignierten Handbewegung über sein Gesicht. „Ich schreibe schon lange nicht mehr. Seit Jahren, seit Jahren. Ich habe alles geschrieben, was ich schreiben wollte. Alle meine Gedanken und Gefühle habe ich in Poesie ausgedrückt.“
Ich schaue auf meine Uhr und bin mir der Patientenmenge vor meinem Zimmer bewusst. „Warten Sie“, sagt Ralph schnell, „ich habe noch ein Gedicht für Sie. Es heißt …“