Im Reich der hungrigen Geister. Gabor Mate

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Im Reich der hungrigen Geister - Gabor  Mate

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Finden Sie das lustig?“

      „Natürlich nicht.“

      „Wissen Sie, dass meine Großeltern in Auschwitz unter dem Schild mit diesem Schriftzug getötet wurden? Mein Großvater war Arzt.“

      „Er hat die Deutschen verhungern lassen“, sagt Ralph, als ob er eine unbestreitbare Tatsache festhält.

      Das hätte mein Stichwort sein sollen, um die Diskussion zu beenden. Mich drängt jedoch meine Entschlossenheit, meine professionelle Ruhe und den therapeutischen Kontakt zum Patienten zu bewahren. Außerdem bin ich neugierig zu erfahren, was es mit diesem Mann auf sich hat.

      „Mein Großvater war Arzt in der Slowakei. Wie hat er die Deutschen verhungern lassen?“

      Ralphs gelassene Pseudo-Rationalität verflüchtigt sich im Bruchteil einer Sekunde. Seine bleichen Wangen zittern vor Wut, seine Stimme hebt sich und das Tempo seiner Rede beschleunigt sich mit jedem Wort. „Die Juden hatten all das Gold, sie nahmen all die Ölgemälde … sie nahmen die ganze Kunst, sie waren die Polizeibeamten, Richter, Anwälte und sie ließen die Deutschen verdammt noch mal verhungern. Dieser Jude Stalin schlachtete 90 Millionen Deutsche ab … die Invasion unseres verdammten Landes … alle wie gelähmt, an Hunger sterbend. Sie wissen das genauso gut wie ich. Ich habe keine Gewissensbissen gegenüber Ihnen und auch keine Trauer.“

      Dass ich mir als Jude und Kleinkind, das den Genozid überlebt hat, diese Faseleien ruhig anhören kann, liegt daran, dass ich weiß, dass sie nicht von mir oder meinen Großeltern oder gar vom Zweiten Weltkrieg oder von Nazis und Juden handeln. Ralph stellt den schrecklichen Aufruhr seiner Seele zur Schau. Die leidenden Deutschen und raffgierigen Juden in seiner Erzählung sind Projektionen seiner eigenen Phantome. Der unberechenbare Mischmasch, den er Geschichte nennt, spiegelt sein inneres Chaos, seine Verwirrung und seine Angst wider. „Als Kind bin ich in Deutschland verhungert, und auch in diesem Land bin ich verdammt noch mal verhungert … ich kam 1961 hierher.“ (Ralph kam als Teenager.) „Scheiß Kanadier. Ich hasse die Kanadier.“

      Es ist an der Zeit, ethnische Zusammenhänge und die Geschichte hinter sich zu lassen. „Okay“, sage ich. „Mal sehen, wie das Morphium bei Ihnen wirkt.“

      „Wie viel bekomme ich?“

      „Es reicht für vier oder fünf Tage. Dann muss ich Sie wieder sehen.“

      „Ich hasse es, ständig in die Arztpraxis zu kommen. Ich hasse die Arztpraxis. Es ist Zeitverschwendung.“

      „Ich hasse auch die Tankstelle“, versichere ich ihm, „aber ich fahre hin, sonst geht mir das Benzin aus.“

      Ralph ist versöhnlich. „Danke, mein Herr“, erwidert er auf Deutsch. „… nichts für ungut.“

      „Nein“, sage ich.

      Wir tauschen auf Deutsch ein herzliches Auf Wiedersehen aus, um diese - unsere erste - Begegnung zu beenden. Es wird noch viele weitere geben, einige enden damit, dass Ralph zum Abschied den Arm zum Hitlergruß hochreißt. Wenn er wütend ist, weil ich mich weigere, ihm das eine oder andere Medikament zu verschreiben, schreit er: „Heil Hitler!“ oder „Arbeit macht frei!“ oder die immerwährende Beschimpfung „Schmutziger Jude“. Nicht, dass ich endlose Toleranz gegenüber Nazi-Parolen habe, die er auf Deutsch auf mich abfeuert! Im Allgemeinen stehe ich auf, wenn die Schimpftirade beginnt, und öffne die Tür, um das Ende des Besuchs zu signalisieren. Ralph geht normalerweise auf den Wink ein, aber einmal musste ich ihm mit der Polizei drohen, sollte er sich nicht schnellstens aus meinem Büro entfernen.

      ———

      Das Deutsch, das Ralph spricht, ist nicht immer voller hasserfüllter Beschimpfungen. Er deklamiert im Stakkato in fließendem Deutsch oder er rezitiert Zeilen aus der Ilias in einer Sprache, die wie Altgriechisch klingt. Bei unserem zweiten Treffen bricht er in einen Schwall deutschsprachiger Rezitationen aus; das einzige Wort, das ich erkenne, ist „Zarathustra“. „Nietzsche“, erklärt er. „Als Zarathustra dreißig Jahre alt war, verließ er seine Heimat und den See seiner Heimat und ging in das Gebirge …“

      Diese Zeilen von Nietzsche gleiten ihm schnell von der Zunge, ebenso wie Zitate aus anderen Klassikern der Literatur seines Heimatlandes. Es ist unmöglich zu erkennen, wie viel Wahrheit in seinen eigentümlichen Anekdoten steckt, aber seine kulturellen Kenntnisse sind beeindruckend – umso mehr, als sie weitgehend selbst erworben zu sein scheinen. Seine Behauptungen, er habe irgendwo das College abgeschlossen, erscheinen mir zweifelhaft. Diplom hin oder her, er ist auf jeden Fall belesen.

      „Ich liebe Dostojewski“, teilt er mir eines Tages mit. Ich beschließe, ihn zu prüfen.

      „Mein Lieblingsautor“, sage ich. „Was haben Sie von ihm gelesen?“

      „Oh“, antwortet Ralph und leiert nonchalant einige Titel der Romane und Kurzgeschichten des russischen Autors herunter: „Der Idiot, Schuld und Sühne, Der Spieler– das gefiel mir besonders gut, wissen Sie, weil es um einen Suchtkranken geht –, Aufzeichnungen aus dem Kellerloch. Die Brüder Karamasow habe ich nicht geschafft. Zu lang.“

      Ein anderes Mal erzählt er mir von einem Abenteuer, das er als Jugendlicher erlebt hat, als er zu Besuch in Deutschland war.

      „Ich nahm dieses Mädchen mit in Beethovens Geburtszimmer.“

      Ich erinnere mich an mein rudimentäres Deutsch aus der Kindheit – geboren: to be born; Zimmer: room. „Beethovens Geburtszimmer?“

      „Ich nahm etwas Wein, Käse und etwas Salami mit sowie ein bisschen Marihuana. Ja, das Zimmer, in dem er geboren wurde. Wir sind eingebrochen. Ich knackte das Schloss, nahm dieses Mädchen mit, spielte auf seinem Klavier und hatte eine tolle Zeit.“

      „Ha“, sage ich und hebe skeptisch eine Augenbraue. „In welcher Stadt war das?“ Ein weiterer Test.

      „Bonn.“

      „Ja, Beethoven wurde in Bonn geboren“, murmelte ich.

      Ralph, ein bisschen Kokain-durchgeknallt, geht spontan zu einer völlig unerwarteten Aufführung über.

      „Hier ist ein Gedicht von mir, das Ihnen gefallen könnte. Es heißt ‚Präludium‘.“ Sein mit einer tiefen, körnigen Stimme vorgetragenes Stakkato-Rezital ist so schnell, dass man als Zuhörer kaum mitbekommt, ob er zwischendrin Luft holt. Das Gedicht besteht aus Paarreimen in durchgehendem Pentameter. Es handelt von Einsamkeit, Verlust und Fatalismus.

      „Haben Sie das geschrieben?“

      „Ja. Ich habe fünfhundert Seiten Gedichte geschrieben. Es war mein Leben. Ich weiß nicht, wo sie abgeblieben sind. Ich war fünf Jahre lang obdachlos. Ich ließ meine Gedichte in einem Hostel, wo ich eine Woche lang gewohnt hatte. Sie wollten hundert Dollar haben, wenn ich mein Zeug zurückhaben wollte, aber ich konnte es mir nicht leisten. Vielleicht wurde es versteigert, vielleicht hat es der Wachmann bekommen, vielleicht ist es in den Müll gewandert. Ich weiß es nicht. Ich erinnere mich nur an wenige Texte. Es ist alles weg. Ich habe alles verloren.“

      Ralph ist für einen Moment ungewohnt nachdenklich. Plötzlich leuchtet sein Gesicht auf. „Das werden Sie erkennen“, sagt er und deklamiert in schnell gesprochenen Reimen auf Deutsch. Ich konnte die Sprache nie fließend sprechen, ich verstehe nichts von dem, aber ich rate gerne. „Das klingt mehr nach Goethe als nach Goebbels.“

      „Ist

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