Mama, ich höre dich. Alwin Meyer

Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Mama, ich höre dich - Alwin Meyer страница 3

Автор:
Серия:
Издательство:
Mama, ich höre dich - Alwin Meyer

Скачать книгу

etwa 12.000 Menschen ihr Zuhause. Ungefähr jeder fünfte Einwohner war Jude. »Die Vorfahren meines Vaters lebten seit ungefähr 200 Jahren in der Stadt. Meine Mutter kam aus dem dreißig Kilometer entfernten kleinen Dorf Oslany. Die Großmutter hatte Verkaufsstände auf dem Marktplatz in Topol’čany und auf den Plätzen der umliegenden Ortschaften. Das war ein richtiger Familienbetrieb. Von den dreizehn Kindern meiner Großeltern waren fünf Schneider so wie mein Großvater. Alles was verkauft wurde, stellten sie selber her. Als ich schon etwas älter war, half ich beim Verkauf. Das mochte ich sehr, das war eine große Attraktion für mich.«

      JÜRGEN LOEWENSTEIN war ein echter Berliner Junge, der bei seinen Großeltern Berthold und Agathe Sochaczewer wohnte. Als die Nazis sie der Wohnung »verwiesen«, zogen sie ins Scheunenviertel im Zentrum Berlins, und zwar in die Grenadierstraße 4a (heute Almstadtstraße 49). »In der Grenadierstraße wohnten vor allem Juden, die aus Polen gekommen waren. Die meisten waren kleine Händler, Schneider oder Schuster. Überall gab es kleine Stuben, die als Synagogen dienten. Umgangssprache war Jiddisch.«

      Für den Jungen änderte sich alles radikal Mitte der 1930er Jahre. Er sah zum ersten Mal einen Aufmarsch der »braunen Kolonnen«. Mit Fackeln, grölend und singend, marschierten sie durch seine Straße. Er öffnete das Fenster und konnte deutlich hören, was gesungen wurde: »Wenn das Judenblut vom Messer spritzt, geht’s noch mal so gut.« Diese Zeilen sind ihm nie mehr aus dem Kopf gegangen. Seine Großmutter hatte sie mit angehört. Als das Nazilied noch nicht ganz verklungen war, riss sie ihn weg, schloss schnell das Fenster und sagte: »Jürgen, sieh dir diese Menschen genau an: Das sind deine Feinde. Vergiss das niemals.« – »Damals hörte meine Kindheit auf. Ich war noch keine acht Jahre.«

      LYDIA HOLZNEROVÁ begegnete 1937 im tschechischen Sudetengebiet, das im Herbst 1938 von deutschen Truppen besetzt werden würde, erstmals einem Nazi. Ihre Familie befand sich zur Erholung in einem Kurort, durch den eines Tages junge NSDAP-Anhänger mit Trommeln und Pfeifen marschierten. »Also, das nicht! Wir fahren nach Hause«, war der Kommentar ihres Vaters. »Warum denn?«, fragte die Siebenjährige. »Und damals haben mir die Eltern erklärt, dass sich wahrscheinlich etwas in unserem Leben ändern wird.« Immer häufiger diskutierten Emil und Růžena Holzner, ob sie emigrieren sollten. »Ich blieb immer von solchen Gesprächen verschont. Ich wurde immer hinausgeschickt.« Lydia erinnerte sich daran, dass ihre Eltern ihre sieben Jahre ältere Schwester Věra in Sicherheit bringen wollten. Doch ihre Schwester wollte sich nicht wegschicken lassen. Sie sagte: »Ich bin hier zu Hause. Das ist meine Heimat, und hier bleibe ich.«

      YEHUDA BACON war zehn Jahre alt, als deutsche Truppen seine tschechische Heimatstadt Ostrava im März 1939 besetzten. Wie wenig der Junge und andere Kinder kurz vor dem Beginn des Zweiten Weltkrieges auf das vorbereitet waren, was auf sie und ihre Familien zukommen sollte, bezeugt ihr Verhalten beim Einmarsch der deutschen Truppen: »Bei der Einfahrt der Panzer standen wir Kinder am Straßenrand und haben bei jeder Gelegenheit die Panzer angefasst, denn wir hatten zu Hause gehört, dass es Kartonpanzer waren. Außerdem machte die feierliche Stimmung – wie es uns schien – und das Meer der Hakenkreuzfahnen auf uns einen tiefen Eindruck.« Nicht einmal im Traum hätte Yehuda vermutet, welche schreckliche Realität schon bald den Alltag nicht nur seiner Familie bestimmen sollte.

      Damals marschierten deutsche Truppen auch im tschechischen Kutná Hora ein: Frühmorgens wurde die zehnjährige DAGMAR FANTLOVÁ von ihrem Vater Julius geweckt, und er sagte zu ihr: »›Wir haben die Republik verloren.‹ Dabei weinte er. Das war für mich etwas ganz Außerordentliches. Denn ich hatte meinen Vater noch nie weinen gesehen.« Dagmar stand auf und ging zur Schule. Dort war es wie immer. »Nur schlechtes Wetter hatten wir.« Als sie mittags nach Hause kam, erzählte ihr Vater von der Fahrt zu einem Patienten. Er fuhr mit seinem Auto auf der linken Seite. »So ist man damals noch bei uns gefahren.« Eine deutsche Kolonne kam ihm entgegen. Die fuhr rechts. Sie hielten ihn an und sagten ihm, dass er auf der rechten Straßenseite fahren müsse. Dagmars Vater kam »tief erschrocken« nach Hause.

      JIŔÍ STEINER erinnerte sich zeit seines Lebens mit Schrecken an den Einmarsch der deutschen Soldaten (am 15. März 1939) in seine Heimatstadt Prag. Er und sein Zwillingsbruder Zdeněk waren zehn Jahre alt. Mit ihrer Mutter Jana waren sie allein zu Hause. Sie schauten auf die Straße, versteckten sich hinter den Gardinen, »damit man uns nicht sehen konnte«. »Mama begann zu weinen, und uns war sehr bange.«

      Ende 1941 oder Anfang 1942 wurden die Juden im polnischen Sławków in einem Ghetto konzentriert. Von 18 Uhr bis sechs Uhr früh herrschte strikte Ausgangssperre. Der 14-jährige JANEK MANELA MANDELBAUM war in tiefer Sorge um seine Mutter. Sie versuchte, stark zu sein, sich um seinen Bruder und ihn zu kümmern: »Aber sie war aufs Äußerste beunruhigt – vor allem wegen meines Vaters und meiner Schwester«, die bei Verwandten wohnte. Auf ihren Vater hatte die Familie seit Sommer 1939 vergeblich gewartet. Er war bei ihrer Abreise in den Süden Polens in der Hafenmetropole Gdynia bei Gdańsk zurückgeblieben, hatte jedoch bald nachkommen wollen. – Eines Tages in der zweiten Juniwoche 1942 in Sławków, fünf Uhr früh: Es hämmerte an ihre und die Türen der anderen Juden: »Juden raus! Ihr habt fünf Minuten!« Schließlich wurde Janek von seiner Mutter und seinem Bruder getrennt. »Das war der schlimmste Moment in meinem Leben.«

      ROBERT JOSCHUA BÜCHLER, der die jüdische Volksschule im slowakischen Topol’čany besuchte, durfte im September 1940 nicht mehr auf das örtliche Gymnasium gehen. Mit Beschluss vom 13. Juni 1939 hatte die slowakische Regierung jüdischen Schülern den Besuch von öffentlichen Schulen verboten.1 Die jüdischen Kinder durften nur noch jüdische Volksschulen oder Klassen besuchen. Die Jüdische Gemeinde in Topol’čany beschloss, die eigene Volksschule auf acht Klassen aufzustocken. Doch 1942 wurde das Schulgebäude beschlagnahmt. Der Unterricht hörte zunächst auf, wurde später jedoch – »für die von den Nazi-Aktionen verschont gebliebenen wenigen jüdischen Kinder« – im jüdischen Altersheim wieder aufgenommen. 1944 kam dann das endgültige Aus.2

      Thessaloniki (Griechenland), 12. März 1943, es war ungefähr elf Uhr: Deutsche Militärpolizei forderte zahlreiche Juden der Stadt auf, ihre Sachen zu packen. HEINZ SALVATOR KOUNIO war 15 Jahre alt. Die Soldaten brachten ihn, seine ein Jahr ältere Schwester Erika sowie seine Eltern Helena und Salvator zunächst in den Stadtteil Baron Hirsch, in dem bereits viele Juden lebten, und der sich in der Nähe des Bahnhofs befand. Sonntag, 15. März: Um zwei Uhr nachts mussten sie sich auf deutschen Befehl hin auf dem zentralen Platz im Ghetto einfinden. Insgesamt waren sie ungefähr 2.800 Menschen:3 Babys, Kinder, Jugendliche, Frauen und Männer. Zwei Stunden lang geschah nichts, Anspannung und Unruhe wuchsen mit jeder Minute. »Die Mütter versuchten, ihre weinenden Kinder zu beruhigen. Die Männer starrten nervös in die Dunkelheit.« Dann »hörten wir die Befehle bezüglich unserer Deportation«. In Fünferreihen mussten alle zum Bahnhof marschieren. »Da standen diese geschlossenen Viehwaggons.« Sie mussten mit ihrem spärlichen Gepäck, mehr war ihnen zur Mitnahme nicht erlaubt worden, in den Waggon klettern. »Es wurde enger und enger. Es waren so viele Menschen, dass wir uns nicht hinsetzen oder hinlegen konnten. Nicht einmal für fünf Minuten.«

      Als kleiner Junge hörte GÉZA SCHEIN die Erwachsenen vom Krieg reden. Die Scheins lebten auf der ungarischen Donau-Insel Csepel. Um die Jahreswende 1943/44 verbreitete sich in der Familie die Nachricht, dass Deutsche Juden aus anderen Ländern Europas in Konzentrationslager abtransportierten. Diskussionen begannen. Sollte die Familie so wie andere auch in die USA oder nach Südamerika auswandern? Doch sie fühlte sich nicht unmittelbar bedroht. Bis zum 19. März 1944, als deutsche Truppen das Land okkupierten. Im Mai kamen »ungarische Gendarmen« und forderten die Familie auf, die Sachen zu packen und mitzukommen. Der elfjährige Géza wurde im Juli mit seinen Eltern und Großeltern mütterlicherseits in einen Viehwaggon gepfercht.

      Für Familie Bacon aus dem tschechischen Ostrava setzte sich der Zug – wie für viele andere jüdische Familien – im September 1942 in Bewegung. Sie wurden zunächst im Lagerghetto Theresienstadt eingesperrt. In dem Transport befanden sich der 13-jährige YEHUDA BACON, sein Vater Isidor, seine Mutter Ethel und seine 19-jährige Schwester Hanne. Rella, Yehudas zweite Schwester, war

Скачать книгу