Makabrer Augustfund im Watt. Manfred Eisner
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Читать онлайн книгу Makabrer Augustfund im Watt - Manfred Eisner страница 4
»Hallo, Anneke, ich bin Kriminaloberkommissarin Dörte Westermann von der Kripo Itzehoe. Dies hier ist meine Kollegin Nili Masal vom LKA in Kiel, und der Herr dort an der Tür ist mein Partner Hauke Steffens. Wir sind gekommen, weil wir wissen möchten, was mit dir geschehen ist. Ist es okay, wenn wir dich duzen und dir ein paar Fragen stellen?«
Nachdem sich Anneke zu allem bereit erklärt hat und auch einverstanden ist, dass ihre Aussage aufgezeichnet wird, beantwortet sie die gezielten Fragen, die ihr Dörte und Nili abwechselnd stellen, und erzählt, was ihr geschehen ist. Über die Internet-Chat-Site ›boyfriend‹ hatte sie überraschend ein gewisser Kenny kontaktiert. Er gab an, siebzehn Jahre alt zu sein. Woher dieser Kenny kam und wie er den Kontakt hatte herstellen können, wusste sie nicht. Nach und nach hatten sie Informationen über den jeweils anderen sowie Fotos ausgetauscht. Auf diese Weise erhielt Anneke Bilder eines attraktiven Teenagers, einer Zweimastsegelyacht, die in der Marina Wendtorf an der Ostsee lag, des Elternhauses in Hamburg-Winterhude und eines pompösen Reetdachhauses in Kampen auf Sylt. Der Vater sei angeblich Anlagedirektor einer renommierten Privatbank und die Mutter freischaffende Journalistin. Anneke zeigt Dörte und Nili ein auf ihrem Handy gespeichertes Foto des besagten Kenny. Ihnen blickt ein hübscher blonder und freundlich lächelnder Jüngling entgegen, der sich lässig gegen die Motorhaube eines rasanten roten Ford Mustang lehnt. Dann erzählt das Mädchen weiter: »Er schrieb mir immer ganz lieb und ich fand ihn sehr sympathisch. Nach und nach haben wir uns angefreundet und auch ich habe ihm mehrere Fotos von mir, unserem Haus und dem letzten Sommerurlaub auf Mallorca geschickt. Vor etwa einer Woche schrieb er mir, er sei in mich verliebt und wolle mich unbedingt treffen. Wir könnten doch übers Wochenende nach Sylt fahren, er wolle mich dort seinen Eltern vorstellen. Ich würde wahlweise bei ihnen im großen Haus oder in einem Hotelzimmer in Kampen übernachten. Über die Kosten müsse ich mir keine Gedanken machen. Da ich wusste, dass mir meine konservativen Eltern einen solchen Ausflug niemals erlauben würden, erfand ich die Notlüge mit dem Besuch bei Gesches Eltern in Friedrichskoog. Die beiden sind gut mit meinen Eltern bekannt und Gesche hat schon öfter bei uns übernachtet. Ich dachte, wenn Kennys Eltern ebenfalls auf Sylt sind, würde das auf dasselbe hinauslaufen. Niemals hätte ich geahnt, dass alles gefaked war! Wir verabredeten, dass ich Kenny am Freitag nach Schulschluss um vierzehn Uhr am Dithmarscher Platz in Itzehoe treffe. Von da aus würden wir gemeinsam nach Sylt fahren. Als ich dort ankam, war von Kenny keine Spur und ich wurde unruhig. Auf einmal kam ein nett aussehender älterer Mann auf mich zu und fragte mich, ob ich Anneke sei. Er zeigte mir ein Bild von Kenny und einen Ausdruck unseres letzten Chats mit dem vereinbarten Treffpunkt. Er erzählte, Kenny habe unterwegs eine Panne mit seinem Mustang gehabt. Der sei in eine Werkstatt in der Nähe von Elmshorn abgeschleppt worden und werde dort repariert. Er sei ein guter Freund des Werkstattinhabers und Kenny habe ihn gebeten, mich abzuholen und mich zu ihm zu bringen. Ich wunderte mich zwar, dass Kenny mich nicht angerufen hatte, aber da mir der Mann dessen Foto und unseren Chat zeigen konnte, stieg ich arglos in seinen Transporter. Wir fuhren auf die Autobahn in Richtung Süden, was mich weiter beruhigte, da ich ja annahm, dass Kenny von Hamburg aus zu mir auf dem Weg gewesen war. Irgendwann zeigte der Mann auf eine Wasserflasche und bemerkte, ich könne daraus trinken, falls ich Durst habe. Die Flasche war anscheinend noch nicht geöffnet worden, sodass ich ohne Bedenken daraus trank. Dann muss ich eingeschlafen sein, denn als ich wieder wach wurde, lag ich mit gefesselten Händen auf einer Matratze auf dem Boden eines halbdunklen Raumes.«
Angesichts dieser Erinnerung kullern plötzlich dicke Tränen aus Annekes Augen. Nili setzt sich zu ihr ans Bett und reicht ihr ein Papiertaschentuch. Dann greift sie nach ihrer Hand. »Ganz ruhig, Anneke! Wenn es dir zu viel wird, können wir gern eine Pause machen oder dieses Gespräch ein anderes Mal fortführen.«
Anneke wischt die Tränen fort und verneint mit einem Kopfschütteln. »Bitte nicht, Frau Kommissarin! Ich möchte jetzt alles erzählen, damit Sie dieses Schwein so schnell wie möglich finden und festnehmen!«
»Danke, das wissen wir sehr zu schätzen. Du bist wirklich ’ne tapfere Deern!«, sagt Dörte mit Bewunderung in ihrer Stimme.
Anneke macht Anstalten, nach dem Glas Wasser zu greifen, das auf dem Nachttisch steht. Nili reicht es ihr und sie trinkt daraus.
»Du kannst uns ruhig ›Nili‹ und ›Dörte‹ nennen, Anneke. Als Nächstes würden wir gern von dir erfahren, ob dieser Kenny dir seinen Familiennamen genannt hat.«
Das Mädchen denkt kurz nach, dann sagt sie: »Ich weiß es nicht mehr genau, aber ich glaube, dass er ihn beiläufig erwähnt hat. Es war irgendwas mit ›Mai‹ – ›Maywald‹ oder ›Meifort‹. Tut mir leid, mehr fällt …«
Nili quittiert das Gesagte mit einem Lächeln. »Macht nichts, ist nicht so wichtig. Wie ging’s dann weiter?«
»Meine Hände waren zwar mit einem Kabelbinder gefesselt, aber die Beine waren frei, sodass ich mich zuerst auf den Bauch legte und mich dann hochstemmte und so auf die Knie kam. Danach konnte ich langsam aufstehen. Auf einmal war mir übel und ich musste mich gleich mehrmals in einen neben der Matratze stehenden Eimer übergeben. Dazu kamen irrsinnige Kopfschmerzen. Als es mir wieder etwas besser ging, untersuchte ich mein Gefängnis. Das einzige Fenster war mit Brettern vernagelt und durch die Ritzen kam nur wenig Licht. Ich ging kreuz und quer durch den Raum, er war etwa zehn Schritte lang und acht Schritte breit. Ich bin ein Meter neunundsechzig groß und die Holzbretterdecke über mir befand sich nur etwa dreißig Zentimeter über meinem Kopf. Demnach war der Raum circa zwei Meter hoch. Die Wände waren aus unverputzten Rotsteinen, der Fußboden aus rohem Estrich. Die Luft war feucht und es roch modrig. Ich vermute daher, dass ich in einer alten Kate oder einer Scheune gefangen gehalten wurde. Eine dicke Holztür in der Wand war von außen verriegelt. Irgendwann stolperte ich gegen einen Hocker, auf dem zwei Coladosen und eine Schachtel Pizza standen. Nach der bösen Erfahrung mit der Wasserflasche wagte ich es zuerst nicht, daraus zu trinken. Ich war stinksauer auf mich selbst, weil mich mein Entführer so leicht überrumpelt hatte. Allmählich kam ich zur Ruhe und überlegte, wie ich aus meinem Gefängnis fliehen konnte. Dann hörte ich Motorengeräusche, die näher kamen, und erkannte den Van meines Entführers. Rasch legte ich mich zurück auf die Matratze und stellte mich schlafend. Wie in Zeitlupe öffnete sich kurze Zeit später die Tür und ich sah durch meine zusammengekniffenen Augen, wie der Mann mit leisen Schritten eintrat. Er hielt eine große Stablampe in der Hand und peilte die Lage. Da ich mich nicht rührte und weder die Getränke noch die Pizzaschachtel angefasst hatte, nahm er wohl an, ich sei noch immer bewusstlos. Er kam näher und leuchtete mir ins Gesicht. Ich stöhnte leise und tat so, als würde ich gerade zu mir kommen. Dann beugte er sich über mich und strich mir mit der Hand über die Haare. Er konnte ja nicht ahnen, dass ich seit zwei Jahren regelmäßig in einem Taekwondo-Studio trainiere und dort bereits den braunen Gürtel erworben habe. Als der geeignete Augenblick gekommen war, verpasste ich ihm mit beiden Händen einen harten Kantenhieb an die Kehle und stieß ihn mit angewinkelten Beinen beiseite. Wie ein Kartoffelsack fiel er zu Boden und blieb dort regungslos liegen. Ich sprang auf und floh durch die offene Tür ins Freie. Nachdem ich durch einen kleinen Wald gelaufen war, kam ich auf eine enge asphaltierte Straße und lief diese entlang, bis ich in der Ferne das inzwischen vertraute Motorengeräusch hörte. Sofort verließ ich die Straße, rannte über eine Koppel und konnte mich gerade noch rechtzeitig hinter eine Mauer ducken, als der Transporter im Schritttempo