Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Группа авторов
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Vorbild wurde die Weimarer Reichsverfassung jedoch insbesondere durch die Fortschreibung des Prinzips der Volkssouveränität und den Grundrechteteil. Darüber hinaus wurden die Bestimmungen zum Verhältnis von Staat und Religionsgemeinschaften aus der Weimarer Verfassung ebenso ins Grundgesetz übernommen wie die zum öffentlichen Dienst.
Die Aufzählung macht deutlich, wie sehr die Weimarer Verfassung als Bezugsnorm für das Grundgesetz Geltung entfaltete, sie „schimmert tatsächlich im Grundgesetz fast überall durch“ (Benz 2010: 417). Man schrieb sie fort und um zugleich, adaptierte einzelne Elemente und setzte ganz bewusst Gegenpunkte, wo man sie für das Scheitern der Weimarer Republik mit verantwortlich machte. Aber war sie das wirklich und inwiefern?
Mit gewachsenem zeitlichen Abstand setzt sich in der historischen Reflexion ein distanzierterer Blick auf den Anteil der Weimarer Reichverfassung am Untergang der Weimarer Republik durch (vgl. Waldhoff 2019: 308ff.). So werden für die Endphase der Weimarer Republik ab 1930 drei Momente für das „Scheitern der Verfassung an den Verhältnissen“ (Kielmansegg 2019: 236) identifiziert: Erstens die Unfähigkeit der politischen Parteien eine tragfähige Koalition der demokratischen Kräfte im Reichstags abzuschließen, zweitens die Entscheidung einer Mehrheit der Wähler in der Wirtschaftskrise auf antidemokratische Parteien zu setzen und drittens das Vabanquespiel einer erzkonservativen Gruppe um den Reichspräsidenten, die die Situation nutzen wollte eine autoritäre Staatsordnung zu etablieren. Die Weimarer Verfassung trug aber weder Schuld an der politischen Kultur der Republik, noch kann sie für die Wahlergebnisse oder politische Hasardeure verantwortlich gemacht [20] werden. Aber es gab Einfallstore in den Verfassungsgrundsätzen, z. B. einen „grundsätzlichen Wertrelativismus“, und „Konstruktionsfehler“ der Verfassung, die es möglich machten, sie „mit Hilfe ihrer eigenen Bestimmungen aus dem Scharnier [zu] hebeln“ (Benz 2010: 417). Das aber ist nur eine Möglichkeitsstruktur und nicht einmal die entscheidende. Denn es waren die (Fehl-)Entscheidungen von Menschen, die durch ihr Handeln das Ende der Weimarer Republik möglich machten: „Die Parteien versagten sich, die Wähler gingen Wege aus der Verfassung hinaus. Dagegen ist jede Verfassung machtlos“ (Kielmansegg 2019: 237).
Deutlich geworden sollte sein, dass mit Verfasstheit mehr gemeint ist als ein Verfassungstext. Zwar bietet ein solcher Möglichkeiten oder setzt Einschränkungen für den politischen Gestaltungs- und Zerstörungswillen, ob eine andere Konstruktion der Weimarer Verfassung aber ein zutiefst erschüttertes politisches System wie das der Weimarer Republik unter dem Druck der Weltwirtschaftskrise und der antidemokratischen Strömungen aufrecht hätte erhalten können, ist da kontrafaktisch nicht zu beantworten. Für das Grundgesetz ergeben sich daraus aber zwei Fragen: Ist es tatsächlich geeignet, aufgrund seiner Konstruktion „Funktionsstörungen des demokratischen und parlamentarischen Systems“ zu verhindern (Benz 2010: 419) und in welchem Verhältnis steht es zur politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland.
Denn als der Parlamentarische Rat das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland am 23. Mai 1949 verkündete, sah die Welt ganz anders aus als heute. Im Kalten Krieg aus der Taufe gehoben, war die westdeutsche Verfassung das Organisationsstatut eines Teilstaates und sollte – so die Präambel – als Provisorium „dem staatlichen Leben für eine Übergangszeit eine neue Ordnung […] geben“, bis das „gesamte deutsche Volk“ in der Lage sein würde, „in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden“ (Bundesgesetzblatt 1949: 1).
Es war zudem in doppelter Frontstellung sowohl gegen die überstandene, gleichwohl aber nachwirkende NS-Diktatur als auch gegen den sich in Ost-Mittel-Europa durchsetzenden Stalinismus konzipiert (vgl. Seifert 1991). Daher ist es als „Grundrechtestaat“ (Batt 2003: 32) in seinen Grundlagen und Prinzipien gegen jegliche Verfassungsaushöhlung oder durchbrechung durch die Schutzbestimmungen der Artikel 19 Abs. 2 GG („Wesensgehaltsgarantie“ der Grundrechte) und Art. 79 Abs. 3 GG („Ewigkeitsklausel“) gewappnet. Sicher ist sicher. Das gilt jedoch auch für die Ausgestaltung des Demokratieprinzips, wo das Grundgesetz in Hinsicht auf plebiszitäre Elemente (z.B. Direktwahl des Bundespräsidenten, Volksentscheide im Bundesgebiet) extrem zurückhaltend, ja geradezu misstrauisch ist.
Die Väter und Mütter des Grundgesetzes waren sich aufgrund der Diktaturerfahrung weitestgehend darin einig, dass es im Verfassungstext um [21] den Schutz der Bürger vor staatlichen Übergriffen gehen müsse („Der Staat ist für den Bürger da, nicht umgekehrt!“), was zugleich einige institutionelle Garantien (z.B. in Art. 6 Abs. 1 GG für Ehe und Familie) bedingte. Keine Einigung bestand hinsichtlich der Festlegung einer konkreter Wirtschafts- und Sozialordnung. Daher ist das Sozialstaatsprinzip weit weniger ausgebildet als Demokratie, Republik, Bundesstaats- und Rechtsstaatsprinzip. Es entspricht daher eher einer Staatszielbestimmung (Hesse 1999: 91). Der Grund liegt in den Umständen der Zeit, aber auch in den Mehrheitsverhältnissen im Parlamentarischen Rat: 1949 konnte niemand vorhersehen, wie erfolgreich die Bundesrepublik wirtschaftlich sein würde (vgl. Detjen 2009: 66). Zudem lässt eine Nichtfestlegung mehr Raum für politische Gestaltung – auch die zukünftigen Mehrheitsverhältnisse im Bundestag waren nicht vorhersehbar.
Aber das Grundgesetz des Jahres 1949 ist nur mehr bedingt das Grundgesetz des Jahres 2019 bzw. 2020. Der sich über Jahrzehnte vollziehenden Wertewandel, die zunehmenden Komplexität des Bund-Länder-Verhältnisses und der Finanzverfassung, die Integration der Bundesrepublik in Europa und der internationalen Staatenordnung und nicht zuletzt die Wiedervereinigung machten Änderungen des Grundgesetzes unumgänglich, ohne jedoch den Verfassungskern zu berühren und die grundlegenden Strukturprinzipen zu verändern. In über 60 Änderungen wurden zahlreiche Artikel des Grundgesetzes modifiziert, gestrichen oder neu eingeführt: z. B. Hineinschreiben des Umweltschutzes ins Grundgesetz, mehrmalige Veränderung der Aufgaben- und Steuerverteilung zwischen Bund und Ländern, Aufnahme der europäischen Dimension und der vereinigungsbedingten Änderungen (z.B. die Anzahl der Bundesländer und die Stimmverteilung im Bundesrat betreffend).
Das Grundgesetz scheint damit auf den ersten Blick das Beispiel einer sich erfolgreich an die Zeiten anpassenden, gleichwohl beständigen, zudem in der Bevölkerung breit akzeptierten und prinzipiell nicht in Frage stehenden Verfassung – die Verfassung einer „geglückten Demokratie“ (Wolfrum 2007). Das eben ist der Unterschied zur Weimarer Republik. Trotz eines enormen Gesellschafts- und Wertewandels, trotz der Friktionen im Vereinigungsprozess von Bundesrepublik und DDR sowie der Herausforderungen von Migration und Globalisierung weist die politische Kultur Deutschlands ein hohes Maß an Demokratiezustimmung auf. Bis vor Kurzem war weder eine Legitimationskrise der deutschen Demokratie noch eine zunehmende Kluft zwischen West- und Ostdeutschen messbar, wohl aber Skepsis in Bezug auf „Prozesse der religiösen Pluralisierung“ – sowie damit einhergehend eine „negative Wahrnehmung muslimischer Bürger“ – und eine etablierte Politiker- und Parteienverdrossenheit (Pickel 2015: 190ff.). Im Lichte der Veränderungen des Parteiensystems, der Konjunktur von Populismus und eines wieder- bzw. neuentdeckten Ost-West-Gegensatzes muss sich erweisen, ob diese Einschätzung [22] auf absehbare Zeit Bestand hat, denn die Stabilität einer politischen Ordnung ist kein Naturgesetz.
Die Verfasstheit der Republik spiegelt sich denn auch in der Frage nach der Verfassung wider. So ist es nicht verwunderlich, dass es immer wieder Vorschläge gab, das Grundgesetz zu erneuern oder gar durch eine „echte“ Verfassung zu ersetzen, über die tatsächlich das Volk selbst abstimmt, z.B. im Jahr 2009 vom damaligen SPD-Vorsitzenden Müntefering. Damit war er damals nicht allein: 2009 waren Ost- wie Westdeutsche „ganz überwiegend (83 Prozent) der Meinung, dass das 60 Jahre alte Grundgesetz einer ‚grundlegenden‘ bzw. ‚teilweisen‘ Überarbeitung bedarf“, wobei diese Haltung bei den Ostdeutschen stärker auf eine „grundlegende“ Überarbeitung abhob (Vorländer 2009: 16). Dabei sind die Vorstellungen einerseits nahe beieinander (Grundrechtsschutz), andererseits weit voneinander entfernt (Wirtschaftsordnung).
Noch immer heißt das Grundgesetz aber so wie 1949, obwohl durch den Abschluss