Liebe in Zeiten des Kapitalismus. Robert Misik

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Liebe in Zeiten des Kapitalismus - Robert Misik

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einer schieren „Angstepidemie“, die die Gesellschaften des Westens erfasst habe, sprach jüngst der Soziologe Hartmut Rosa. Die Angst hat Gründe, aber einmal in der Welt, verliert sie die Fäden zu den Gründen. Sie wird grundlos und auch anlasslos. Anders als die Furcht, die zielgerichtet ist (die Furcht vor Spinnen, die Furcht im Dunkeln), ist Angst existenziell, nicht mehr auf konkrete Objekte bezogen, eine generalisierte Einfärbung des Gemüts. Objekte können dann phantasiert werden (etwa die „Flüchtlingsinvasion“), sind aber letztendlich nicht nur austauschbar, sondern völlig irrelevant.

      Entsolidarisierung ist eine Folge von Angst. Der deutsche Wirtschaftsjournalist Christian Rickens beschreibt das an dem Aufleben bürgerlicher Werte in den Mittelschichten, in deren Leben sich Instabilität hineinfrisst. Er spricht vom „Placebo gegen die eigene Abstiegsangst, nach dem Motto: Unser Kind wird nicht in die Unterschicht abrutschen, denn es heißt nicht Kimberley, sondern Sophie-Charlotte, und es spielt Klavier, nicht Playstations.“ Man fühlt sich dabei an die Beobachtung von Siegfried Kracauer aus den späten Zwanzigerjahren erinnert: „Der Andrang zu den vielen Schönheitssalons entspringt auch Existenzsorgen, der Gebrauch kosmetischer Erzeugnisse ist nicht immer ein Luxus. Aus Angst … färben sich Damen und Herren die Haare.“ Wo sich Existenzangst breit macht, folgt der Konkurrenzgeist auf den Fuß. Dann muss man stets besser aussehen als der Hungerleider von Nebenan.

      DIE ANGST, die heute endemisch geworden ist, hat ihre Geschichte. Angstdiskurse führen wir schon seit den Achtzigerjahren. Die Finanzkrise der Nullerjahre schließlich verstärkte noch einmal das Gefühl, dass die Welt aus den Fugen gerät und politische Eliten keinen Plan mehr haben. Das Gefühl eines elementaren Kontrollverlustes greift um sich. Vorbereitet war das untergründig aber schon länger. Es begann mit Waldsterben, Aids, der Angst vor dem Super-GAU, dann vor dem Y2K-Bang, vor SARS und vor der Vogelgrippe. Das waren noch Diskurse des wohligen Schauers, die aber eine ganze Kultur der Panik vorbereiteten. Schon Mitte der Nullerjahre analysierte der amerikanische Soziologe Frank Furedi in seinem Buch „Politics of Fear“ dieses Gefühl ganzer Gesellschaften, von Gefahren umgeben zu sein. Heute hat die Angst „ihr Verhältnis zur Erfahrung verloren“, so Furedis Schlüsselthese. Mussten auch frühere Geschlechter einen Umgang mit der Emotion der Angst finden, so war diese doch, eher der Furcht verwandt, immer eine Reaktion auf Gefahren, die sich in ihrem Blickfeld befanden. Angst war ein emotionaler Mechanismus, sich gegenüber realen Gefahren zu orientieren, so Furedi. Heute dagegen „scheinen wir uns geradezu vor allem zu fürchten“. Die Furcht selbst produziert bisweilen die Gefahren: Wir fürchten um unseren Gesundheitszustand – und das macht uns krank. Kriminalitätspolitik ist ganz wesentlich damit beschäftigt, das Gefühl der Bedrohung zu bearbeiten, das bekanntlich in keinem Verhältnis zur realen Kriminalität steht. Die moderne Angst also ist eher eine Anleitung zur Desorientierung als zur Orientierung.

      Sowohl die Folge wie die Ursache dessen (man kann das wirklich nur mehr schwer auseinanderhalten) ist der Aufstieg der Angst-Industrie. Medien, Politik, Versicherungsunternehmen, Pharmaindustrie, Ökogruppen, sie alle existieren innerhalb dieses Komplexes der Angst – und leben damit auch von ihm. Es wäre natürlich ein vulgärmaterialistischer, verschwörungstheoretischer Unsinn zu sagen, sie seien seine Ursache. Fast schon eine Pointe: Wir leben in einer Moderne der umfassenden Risikobearbeitung – die man dennoch nicht „Sicherheitsgesellschaft“ nennt, sondern, mit einem Soziologenwort, das Furore machte, als „Risikogesellschaft“ beschreibt.

      NEBEN DEN FAKE NEWS gibt es noch etwas anderes, das man Fake Reality nennen könnte, ein völlig krauses Wirklichkeitsverständnis, das sich aber auf Informationen stützt, die wahr sein können, oder zumindest nicht unbedingt falsch sein müssen. Ja: Man kann aus lauter wahren Informationen eine Fake Reality zusammensetzen, indem man sich aus dem unendlichen Meer an Informationen eben nur jene herauspickt, die das eigene Weltbild stützen. Nehmen wir nur diese beliebten Zeitungsartikel, „so gefährlich ist dieser und jene Bezirk in unserem Land“. Unlängst begegnete ich einer Bekannten, die irgendwo in Niederösterreich wohnt, und nach einiger Zeit eröffnete sie mir, dass sie nicht mehr nach Wien fährt, denn dort sei es ihr zu gefährlich. Und als ich sie fragte, wie sie das meint, wo sie das her hat, meine sie, nun, ihr Mann arbeite in Wien und pendelt jeden Tag und bringt dann die Gratiszeitungen mit. Und in denen liest sie Tag für Tag, dass in Wien täglich gemordet und gebrandschatzt wird. Und nun ist diese Dame keineswegs dumm, und die Berichte in den Zeitungen müssen auch nicht falsch sein. Natürlich gibt es in einer Stadt mit zwei Millionen Einwohnern jede Woche ein paar Einbrüche, auch ein paar Raubüberfälle, auch sexuelle Übergriffe (wobei natürlich die meisten innerhalb der Familien stattfinden), und gelegentlich sogar einen Mord. Wenn nun diese Frau alle paar Tage liest, in Ottakring gab es zuerst einen Mord, ein paar Tage später einen Raubüberfall und dann eine Razzia gegen Drogendealer, während sie in ihrem ganzen Leben noch nie in Ottakring war, sie also auch kein Erfahrungswissen darüber hat, dass man natürlich hunderte Stunden völlig entspannt durch Ottakring gehen kann, ohne dass die Wahrscheinlichkeit sehr hoch ist, mit einer irritierenden Situation konfrontiert zu werden – dann gewinnt sie einen Eindruck, dem kein eigenes Erfahrungswissen gegenübersteht.

      Und seien wir ehrlich: Das ist doch bei uns, die wir uns als weniger dumm wähnen, aber nur wähnen, auch nicht anders. Wenn ich, um ein fiktives Beispiel zu wählen, Schwerin nicht kenne, dort nie bin, und dann lese ich, es gab dort 2016 drei Morde und zwanzig Raubüberfälle, denke ich mir, dass Schwerin ein gefährlicher Ort ist. Womöglich denke ich es nicht explizit, aber die Information ist dann in meinem Kopf und wird mein emotionales Verhältnis zu Schwerin einfärben. Ich werde Schwerin gewissermaßen instinktiv mit dem Begriff „unsicher“ verbinden.

      Nun kann man all das, da die Dame ganz offensichtlich nicht dumm ist, und daher Dummheit als Erklärung ausfällt, auch dem Sensationalismus der Boulevardblätter anrechnen. Das ist nicht falsch. Aber auch nicht völlig richtig. Denn natürlich ist ein Mord oder ein Raubüberfall eine „Story“ – dazu muss das Blatt gar kein Revolverblatt sein. Wohingegen der normale Alltag natürlich nie und nimmer eine Schlagzeile wert ist. Beispiel: „Monika M. ging gestern fünf Stunden in Ottakring spazieren und jeder war nett zu ihr“ – nun, eine solche Nachricht werden Sie natürlich nie in der Zeitung finden. Und das ist auch völlig okay so. Um das noch an einem anderen Beispiel zu sagen: Wenn einmal im Jahr ein Zug entgleist und es vielleicht sogar Tote gibt, steht das in jeder Zeitung. Aber Sie werden nie in der Zeitung lesen: „Gestern sind wieder alle Züge pünktlich und sicher in ihrem Zielbahnhof angekommen.“

      Kurzum: Vom Alltag erfahren wir nie, von Mord und Katastrophen immer. All das färbt unsere Sicht von der Welt – und insbesondere von der Welt, über die wir kein sonstiges Wissen haben, von der wir insbesondere kein Erfahrungswissen haben, das diese Art von „Fake Reality“ etwas konterkarieren könnte. Das Interessante daran ist, dass wir heute mehr und mehr dazu neigen, Welten oder ganze Kulturen nach für sie typischen Verbrechen zu beurteilen. Wenn sich ein IS-Terrorist in die Luft sprengt und zwanzig Unbeteiligte mit in den Tod reißt, halten wir das für einen Ausdruck islamischer Kultur. Und wenn ein afghanischer Jugendlicher einen sexuellen Übergriff begeht, dann leider zunehmend auch. Aber das hängt damit zusammen, dass die meisten Menschen, wenn sie von Afghanen hören, eine Nachricht lesen, die im Zusammenhang mit irgendeiner Form von Bandenkriminalität oder Ähnlichem steht. Weil eben, genauso wenig wie Artikel über friedliche Sparziergänge und sichere Zugsankünfte erscheinen, auch solche Geschichten in den Medien nie vorkommen werden: „Das ist Mohammed I., 23, er ist nett, hat sich gerade ein Eis gekauft und heute schon wieder niemanden vergewaltigt.“

      UM SICH EINE FAKE REALITY zu schaffen, ein Bild von der Welt, das mit der Wirklichkeit nur peripher zu tun hat, braucht es weder zwangsläufig Fake News noch Dummheit. Beunruhigende Nachrichten zu Sachverhalten, über die wir kein wirkliches Erfahrungswissen haben, werden unsere instinktiven Haltungen zu diesen Sachverhalten einfärben. Und oft haben wir kaum andere Informationen, die dieses Gefühlswissen durchkreuzen. Gewiss, manchmal hören wir von Statistiken, die dann das Gegenteil von dem belegen, was das Gefühlwissen nahelegt – aber seien wir ehrlich, das Gefühlswissen, das ja auch mit Emotionen einher geht, ist stärker als eine kalte Statistik oder eine nackte Zahl.

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