106. Ausgabe der allmende – Zeitschrift für Literatur. Группа авторов

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er steht den ganzen Tag vor dem Billa und beschimpft die Eltern, wenn sich Kinder an die Maske greifen. Der lebt dafür! Wir haben ja den Donaukanal vor der Haustüre, viele junge Leute oder Familien, die auf beengten Verhältnissen leben, gehen dort spazieren. Die Wiener Blockwarte riefen die Polizei, aber es ist trotzdem immer mehr geworden. Bald sah man sogar Fahrräder mit den Kühltaschen, die Bier verkauften, und am Schluss gab es fliegende Händler, die Aperol Spritz, Gin Tonic, Zigaretten und Knabberzeugs verkauften. Unglaublich, wie schnell ein eigener Wirtschaftszweig entstand.

      E: Diese Situation funktioniert ja als Brennglas und Verstärker, nicht?

      B: Das war am Anfang auch meine These, dass man in so einer Situation noch einmal verstärkt sieht, wie jemand ist. Absolut interessant war, dass ich bis vor Corona zu 95% voraussagen konnte, wie die Leute auf politische Ereignisse reagieren. Bei Corona war das plötzlich komplett anders, komplett andere Zugangsweisen, komplett andere Positionierungen.

      E: Es hat sich auch verstärkt, was man in den letzten Jahren speziell in den sozialen Medien und in den ganzen öffentlichen Diskursen mitgekriegt hat: Dass die extreme Unhöflichkeit, die hier Platz gefunden hat, stärker wurde und dass sich manche Leute, vielleicht aus Frust, getraut haben, alles rauszulassen, was sie sich bis dahin nicht getraut haben. Die Leute werden unberechenbar, sie verlieren die Nerven oder denken, dass ihre Zeit gekommen ist, weil es jetzt eh schon egal ist.

      P: Es war auch spannend zu sehen, was für ein riesengroßes Publikum man für Verschwörungstheorien gewinnen kann. Ich denk mir immer: Die richtig guten Romanplots sind die von den Verschwörungstheorien.

      E: Bei vielen Menschen weiß man ja, dass die nicht erst jetzt plötzlich Verschwörungstheoretiker werden, die waren das immer schon, nur jetzt trauen sie sich plötzlich. Das ist noch einmal ein Schub mehr, diesem ganzen Müll zuhören zu wollen.

      K: Ich habe beobachtet, dass da viel Einsamkeit ist und eine gewisse ökonomische Verzweiflung, weil die Krise ein Brennglas ist, sie verstärkt alles. Die vorher schon Schwierigkeiten hatten, durchzukommen, kommen jetzt gar nicht mehr durch, die vorher schon einsam waren, sind jetzt sehr einsam.

      E: Die, die vorher schon reich waren, sind jetzt noch reicher.

      B: Aber das ist es nicht nur, das betrifft auch AfD-Wähler, Trump-Wähler, etc., und das sind ja nicht immer nur arme Leute. Im Gegenteil, das hat andere Motive. Das Problem ist ja nicht, dass Menschen irgendeinen Schwachsinn glauben, sondern dass sie ihn glauben wollen.

      P: Ich glaube, das sind Menschen, die eine Erklärung suchen oder einen Schuldigen haben wollen.

      K: Mir ist noch was anderes aufgefallen: Ganz oft sind Leute, die für diese Theorien zugänglich sind, diejenigen, die uns noch vor ein paar Jahren erklärt haben, sie könnten auch Bücher schreiben, wenn sie wollten. Bzw. ihre Lebensgeschichte wäre Stoff für zehn Romane. Mir scheint: Es hat etwas zu tun mit der gefühlten Bedeutung des eigenen Ichs.

      E: Die Ich-Zentrierung ist da sicher ganz wichtig. Man will in der Gesellschaft eine Stimme haben, die man im Leben nicht hat. Und dann vertritt man obskure Ideen.

      B: Das ist ein heikles Gebiet, das stimmt auf der einen Seite, aber auf der anderen Seite sollte man auch eine eigene Meinung haben dürfen. Es ist auch ein großes Problem, dass man dann sehr schnell als Verschwörungstheoretiker abgestempelt wird. Jede Verschwörungstheorie hat einen Kern von Wahrheit. Sonst würde sie nicht funktionieren.

      P: Verschwörungstheorie wird über alles darübergestülpt, was einem nicht passt? Ich glaube, es braucht schon gewisse Parameter, damit es sich als Verschwörungstheorie qualifiziert.

      B: Wenn es aber zum einzigen großen Abwertungsbegriff wird, zurecht oder zu Unrecht, ist das schon problematisch. Natürlich ist vieles davon kompletter Blödsinn.

      K: Ihr habt beide dieses Jahr ein Buch herausgebracht, habt ihr dabei die Krise bemerkt?

      B: Lesungen sind weniger, aber immerhin gibt es noch Veranstaltungen, nur kann in der Regel bloß ein Drittel der Leute kommen, die sonst kommen könnten.

      P: Mein Buch ist tatsächlich eine Woche, bevor die Buchhandlungen zugesperrt haben, erschienen. Das Timing war ganz großartig. Mit den Zahlen ist es immer noch einigermaßen gegangen, aber man spürts auf jeden Fall. Die Leute haben halt völlig andere Sachen gekauft und nicht einen Krimi, der auf einem Friedhof spielt.

      K: Mein Buch, das schon ein Jahr alt ist, wurde dafür im Frühjahr relativ häufig gekauft. Ich habe in den Buchhandlungen nachgefragt, und die haben mir erzählt, dass sie totale Probleme damit haben, Neuerscheinungen zu verkaufen. Die Leute haben eher das gekauft, was sie schon kennen, was ihnen jemand empfohlen hat. Das ist ein Sicherheitsdenken.

      E: Man möchte wohl lieber etwas Vertrautes nehmen in so einer Zeit, etwas, das sich schon ein bisschen bewährt hat. Abenteuer sind eh grade genug, da braucht man nicht auch noch ein neues Buch, wo man nicht weiß …

      K: Ich hatte in der Zeit des Lockdowns drei Interviewanfragen zum Thema: »Frau Kaiser, wie arbeitet man zu Hause?«

      P: Das fand ich auch so lustig! Wie geht’s Ihnen jetzt, was hat sich an Ihrem Arbeitsalltag verändert?

      E: Bei den Interviews, die bei mir auch zum Teil reinkamen, war das immer eine Frage. Da fragt man sich natürlich schon, ob der jetzt mitdenkt. Das liegt aber vielleicht daran, dass man nach wie vor ein komisches Bild von uns Autorinnen und Autoren hat. Nichten und Neffen von mir, die noch nicht im Berufsleben stehen, haben Jahre lang nicht verstanden, was ich eigentlich mache. Arbeiten kann man nur im Büro, weil alle Eltern und die Eltern im Umfeld das so machen. In der Sicht der Leute ist außerdem jeder, der ein Buch veröffentlicht hat, Millionär.

      B: Bei mir ist das eher umgekehrt: Jeder, der ein Buch veröffentlicht hat, ist ein armer Schlucker.

      K: Wird sich denn die Literatur durch dieses Jahr ändern, beziehungsweise der Literaturmarkt? Was die Leute schreiben, wer schreibt? Wird sich unsere kleine Insel der Seligen ändern oder wird es nach nächstem Jahr wieder so werden, wie es immer war?

      E: Die Langzeitfolgen bleiben abzuwarten, und wenn die Wirtschaft jetzt noch einmal zusammenbröckelt, kann das schon noch einmal einiges bewegen. Was dann passiert, wissen wir nicht so recht. Dann könnte für vieles alles noch existenzieller schwierig werden. Was ich mich gefragt habe, ist: Was bedeutet Literatur zum Beispiel für eine Kriegsgeneration und für heutige Leser? Was ist da der Unterschied? Was für eine Literatur schreibt man für Leute, die nie Extremsituationen erlebt haben? Wir alle haben immer nur Überfluss und Wohlstand erlebt und erleben jetzt zum ersten Mal so etwas wie ein bisschen eine Krise. Da wird vielleicht interessant, ob sich etwas verändern wird, wobei ich nicht sagen könnte, was. Was für Bücher wollten Leute lesen, die den Zweiten Weltkrieg erlebt haben? Ob das nicht andere Bücher waren, als das, was unsere Generation lesen wollte, weil sie solche existenziellen Erfahrungen nie gemacht hat? Wenn es da einen Unterschied gibt, vielleicht kommt der wieder ein bisschen raus. Aber ich würde, wie gesagt, nicht wissen, was das dann wird.

      P: Ich hatte eine uralte Großmutter, die zwei Weltkriege erlebt hat, und die wollte immer nur lustige Sachen im Kino sehen. In Krisen- und Kriegszeiten hatte man immer diese heile Welt, speziell von Filmen.

      B: Das war damals anders als

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