Geheilt statt behandelt. Prof. Dr. Harald Prof. Dr. Schmidt
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•Selbstmord: Männer begehen häufiger Selbstmord, obwohl Depressionen bei Frauen als häufiger angesehen werden und Frauen mehr (nicht tödliche) Selbstmordversuche unternehmen. Männer bemühen sich bei Depressionen und psychischen Erkrankungen weniger um Hilfe.
•Biologie: Der Frontallappen des Gehirns – der Teil, der das Urteilsvermögen und die Abwägung der Folgen einer Handlung steuert – entwickelt sich bei Jungen und jungen Männern langsamer als bei Frauen. Dies kann dazu beitragen, dass weit mehr Jungen und Männer bei Unfällen oder infolge von Gewalt sterben, zum Beispiel durch Trunkenheit am Steuer und Tötungsdelikte. Mangelndes Urteilsvermögen und mangelnde Abwägung der Folgen kann auch zu nachteiligen Lebensentscheidungen beitragen, wie Rauchen oder übermäßiges Trinken. Fehlende Risikokompetenz und Verdrängungsmechanismen führen dazu, einfache und offensichtliche Zusammenhänge zwischen Rauchen, übermäßigem Essen und Trinken, mangelnder Bewegung, Stress und auftretenden Krankheitssymptome beharrlich zu leugnen.
Diese Kluft zwischen Männern und Frauen bezüglich Gesundheit und Lebenserwartung wird global in grotesker Weise nicht angemessen berücksichtigt. Obwohl der medizinische Bedarf ganz eindeutig aufseiten der Männergesundheit liegt, weisen Genderstudien bezüglich Gesundheit und Lebenserwartung eine gewaltige Verzerrung in Richtung Women’s Health auf: Eine Onlinedatenbanksuche in der National Library of Medicine (PubMed) ergab 152.450 Studien zu Women’s Health gegenüber nur 10.391 zu Men’s Health17, das sind nur sechs Prozent. Bisher haben weltweit nur drei Länder – Australien, Brasilien und Irland – versucht, die Krankheitslast von Männern durch die Annahme nationaler, auf Männer ausgerichteter Strategien anzugehen.
Diese Vernachlässigung durch die politischen Entscheidungsträger wird durch negative Stereotypen über Männer verstärkt. Einige gehen beispielsweise davon aus, dass Männer weitgehend desinteressiert an ihrer Gesundheit seien – eine Haltung, die wiederum Männer davon abhalten kann, sich mit Gesundheitsdiensten zu befassen.18 Gesundheitsprogramme betrachten Männer häufig als Unterdrücker, als egozentrisch, desinteressiert oder gewalttätig.19 Die Berücksichtigung der Gesundheit von Männern wird besonders wichtig sein, um die „Pandemie“ nicht übertragbarer chronischer Krankheiten zu bekämpfen, von denen mehr Männer als Frauen und Männer in jüngeren Jahren betroffen sind. Und dies ist nicht nur eine Frage der Geschlechtergerechtigkeit. Es ist auch eine Frage der Wirtschaftlichkeit, denn letztlich müssen teure Krankenhausleistungen in Anspruch genommen werden.20
Öffentliche und politische Maßnahmen zur Verbesserung der Gesundheit von Männern, also Men’s Health, sollten drei Ziele haben:21
1.Schulen, in denen Stereotypen über Männlichkeit infrage gestellt werden.
2.Förderung der Gesundheit und des Wohlbefindens von Männern am Arbeitsplatz.
3.Ausrichtung des Gesundheitswesens und der Gesundheitsförderung auf marginalisierte Männer, Männer aus Minderheiten, Männer in Gefängnissen und Männer, die Sex mit Männern haben – alle haben eine höhere Krankheitslast und einen häufigeren frühen Tod als andere Männer.
Interventionen in Ländern mit hohem Einkommen (zum Beispiel Australien, USA und westeuropäische Länder) umfassten im Allgemeinen die Kontaktaufnahme mit Männern in Pubs und Bars, Sportvereinen, Friseurläden, Schulen und am Arbeitsplatz mit Schwerpunkt auf Gewichtsverlust, Raucherentwöhnung und anderen Lebensstilveränderungen. Dass das funktioniert, zeigt ein Beispiel unter übergewichtigen oder fettleibigen männlichen Fußballfans schottischer Profifußballklubs.22 Auch können Männer und Frauen unterstützt werden, tradierte Geschlechterrollen umzugestalten, sodass gerechtere Beziehungen entstehen, was Sexualverhalten, Gewalt in der Partnerschaft und Verhinderung sexuell übertragbarer Krankheiten betrifft.23
Es braucht also eine globale Männergesundheits-Bewegung. Eine Google-Suche mit dem Begriff „Department – Institute – Women’s Health“ ergibt seitenweise Einträge, die gleiche Suche für „Department – Institute – Men’s Health“ ein einziges Institut und dies erfreulicherweise in Deutschland: das weltweit erste Institut für Männergesundheit24 am Universitätsklinikum Hamburg, geleitet von Dr. Frank Sommer, dem weltweit ersten Professor für Männergesundheit. Der Ansatz ist inhaltlich sehr breit und reicht von Sport-, Anti-Aging- und Lebensstilmedizin über Diabetes, Depression und Hormonmangel bis hin zu sexuellen Funktionsstörungen. Der letzte Punkt ist, soweit es die erektile Dysfunktion (also mangelnde Erektionsfähigkeit des Penis) betrifft, extrem wichtig, da er das erste Anzeichen einer ernsthaften Erkrankung des Herz-Kreislauf-Systems sein kann.25 Angesichts der dramatischen Lücke in der Männergesundheit und der sich mehrenden Belege, wie diese geschlossen werden kann, besteht der nächste Schritt darin, das Thema auf die Tagesordnung aller nationalen Regierungen und globalen Gesundheitseinrichtungen zu setzen, ohne die Bemühungen zur Verbesserung der Gesundheit von Frauen zu beeinträchtigen. Eine neue Organisation, Global Action on Men’s Health, wurde kürzlich gegründet, um sich für nationale, regionale und globale Gesundheitspolitiken einzusetzen.26 Es ist an der Zeit, nicht nur die Vorteile solcher Maßnahmen für Männer anzuerkennen, sondern auch die potenziellen Vorteile für Frauen, Kinder und die Gesellschaft insgesamt. Die körperliche Erkrankung von Männern kann beispielsweise die psychische Gesundheit ihrer Partnerinnen beeinträchtigen. Wenn Männer krank sind, verletzt werden oder sterben, erleiden Haushalte und Partnerinnen Einkommensverluste.27 Das Schließen der Gesundheitslücke der Männer käme daher Männern, Frauen und ihren Kindern zugute.
Ungebildet + Mann = Minus 15
Nach den vorherigen Betrachtungen zu den Aspekten „ungebildet“ und „Mann“ könnten Sie sich fragen, wie es sich mit ungebildeten Männern beziehungsweise gebildeten Frauen verhält. Und Sie hätten recht mit Ihrer Vermutung: Bildungsferne/armutsgefährdete Männer haben in Deutschland eine durchschnittliche Lebenserwartung von 70,1 Jahren; gebildete/reiche Frauen dagegen von 85 Jahren, das sind exakt 15 Jahre Differenz! Dazwischen liegen armutsgefährdete Frauen mit knapp 77 Jahren und reiche Männer mit 81 Jahren Lebenserwartung. Laut einer Studie der Zurich Lebensversicherung leben daher viele arme Menschen so kurz, dass eine generelle Ausweitung des Renteneintrittsalters auf 71 oder gar 73 Jahre kaum möglich ist. Arme hätten dann keine Aussicht mehr auf einen Ruhestand. Reich ist laut Statistik derjenige, der über mehr als 150 Prozent des durchschnittlichen Einkommens verfügt; als armutsgefährdet gelten Bürger, die weniger als 60 Prozent des durchschnittlichen Einkommens zur Verfügung haben.
Aus medizinischer Sicht könnte man schlussfolgern, es mangele bloß an Bildung in der Bevölkerung – insbesondere bei Männern –, was Gesundheitsvorsorge und -risiken im Speziellen betrifft. Liegt die Lösung wirklich nur in schulischen oder berufsschulischen Bildungsinhalten zum Thema Gesundheit? Sollte die Ursache (und Lösung) dieser dramatischen Unterschiede hinsichtlich Lebenserwartung tatsächlich so trivial sein? Bildung ist insbesondere im Deutschen ein problematischer Begriff mit mindestens drei Bedeutungen: erstens als gesellschaftlich relevantes Kompetenzkapital, zweitens im Humboldt’-schen Sinn als Formung und Veredelung eines individuellen Selbstbilds und drittens als Verknüpfung von Gesellschaft und Einzelnem im Habituskonzept des französischen Soziologen Pierre Bourdieu, bei dem persönliche Netzwerke und Herkunft Renommee, Prestige und Erfolg garantieren. Gerade in letzterem Bildungsbegriff finden sich mit sozialer Einbindung und finanzieller Sicherheit zwei wesentliche gesundheitsförderliche Faktoren wieder. Für soziale Ungleichheiten kann Bildung jedoch sowohl Gift als auch Medizin in einem sein: sowohl eine Möglichkeit, sozialer Ungleichheit zu entkommen, als auch ein Hauptkriterium, um soziale Ungleichheit zu definieren.28 Aufgrund dieses Doppelcharakters fällt es schwer, einen nicht weiter definierten Bildungsbegriff mit Gesundheit zu korrelieren. Insofern darf der Begriff gesundheitliche Bildung hier als Erklärung nicht überstrapaziert werden: Bildung ist eben nur Bildung. Bildung ist kein Gesundheitskonzept und keine