Geheilt statt behandelt. Prof. Dr. Harald Prof. Dr. Schmidt
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In Deutschland beeinflusst die Zuckerindustrie zahnmedizinische Forschung und Mundgesundheitspolitik zum Beispiel über die „Wirtschaftliche Vereinigung Zucker e.V.“ (WVZ), die zentrale Lobbyorganisation der Zuckerindustrie in Deutschland.25 Unter dem Deckmantel einer unabhängigen wissenschaftlichen Aufklärungskampagne betreibt die Zuckerlobby zum Beispiel den Tarnverein „Informationskreis Mundhygiene und Ernährungsverhalten“ (IME).26 Nach dem Motto, Zucker sei keinesfalls Hauptverursacher von Karies, man müsse sich nur gut die Zähne putzen, bietet der IME Aktionsspiele für Kindergärten an.27 In der „Schmeckt richtig“-Broschüre des WVZ, einem Weißbuch für Zucker, wird behauptet, man könne Zucker unbedenklich essen, entscheidend sei nur die Energiebilanz.28
Wollen wir also echte zahngesundheitliche Prävention, ist es daher dringend notwendig, den Einfluss der Zuckerindustrie auf Forschung, Politik und Praxis einzudämmen, zum Beispiel durch klare und transparente Richtlinien. Die Zuckerindustrie zu beraten oder von ihr Geld zu empfangen muss eine Mitgliedschaft in zahnärztlichen Leitlinien-Kommissionen streng ausschließen. Bis das Realität wird, können Sie und Ihre Familie aber schon einmal anfangen, weniger Zucker zu essen. Damit tun Sie nicht nur Ihren Zähnen Gutes …
Diabetes und der Zuckerskandal
Der zusätzlich zur Zahngesundheit bestehende und noch wichtigere Zusammenhang von Zuckerkonsum mit Diabetes mellitus und seinen lebensbedrohlichen Herz-Kreislauf-Komplikationen ist nämlich inzwischen zweifelsfrei bewiesen. Doch es dauerte lange, sehr sehr lange, bis dies in der Ärzteschaft akzeptiert war. Alles begann mit einem der größten Wissenschaftsskandale aller Zeiten29, der zudem viele Menschenleben gekostet hat.
Er hängt eng zusammen mit der renommiertesten Universität der Welt, der Harvard University in Boston, USA, und wieder mit der Zuckerindustrie, die es schaffte, bezüglich der ernährungsbedingten Gründe für die nach dem 2. Weltkrieg stark zunehmenden Herz-Kreislauf-Toten vom Zucker auf Fett abzulenken. Die Enthüllungen sind wichtig, weil die Debatte über den relativen Schaden von Zucker und gesättigten Fetten bis heute andauert. Über Jahrzehnte hinweg ermahnten daraufhin Mediziner die Bevölkerung, ihre Fettaufnahme zu reduzieren, was viele Menschen dazu veranlasste, fettarme, aber – und was viele nicht wissen oder nicht beachten – gleichzeitig extrem zuckerreiche Lebensmittel zu konsumieren. Diese sind die eigentliche Ursache der Fettleibigkeits- und Diabeteskrise.
Aber von vorne. Aufgedeckt wurde der Skandal durch eine Publikation in der Zeitschrift der American Medical Association.30 Sie stützte sich auf Tausende Seiten Korrespondenz und andere Dokumente in den Archiven der Harvard University und anderen Bibliotheken.
In den 1950er-Jahren traten vor allem bei Männern vermehrt koronare Herzkrankheit und Herzinfarkt auf. Dies veranlasste Studien, ob Ernährungskomponenten hierbei eine wichtige Rolle spielen könnten, darunter Cholesterol, übermäßige Kalorien, Aminosäuren, Fette, Kohlenhydrate, Vitamine und Mineralstoffe. In den 1960er-Jahren hatten zwei prominente Mediziner sich widersprechende Hypothesen zu den Ursachen entwickelt: John Yudkin (Autor des visionären Buchs „Pure, white and deadly“) identifizierte zuckerreiche Ernährung als ursächlich für die hohen Raten von Herzkrankheiten.31 Demgegenüber postulierte Ancel Keys32, Gesamtfett, gesättigtes Fett und Cholesterol seien dafür verantwortlich.
John Hickson, ein leitender Angestellter der Zuckerindustrie, schlug anderen Firmen derselben Branche einen Plan vor, den alarmierenden Erkenntnissen über Zucker mit industriefinanzierter Forschung entgegenzuwirken, um so die öffentliche Meinung durch Informationsund Gesetzgebungsprogramme zu verändern. 1965 beauftragte Hickson die Harvard-Forscher D. Mark Hegsted, der später Leiter der Abteilung für Ernährung im Landwirtschaftsministerium der Vereinigten Staaten wurde, wo er 1977 am Entwurf des Vorläufers der Ernährungsrichtlinien der Bundesregierung mitwirkte, und Fredrick J. Stare, den Vorsitzenden der Ernährungsabteilung von Harvard, einen Übersichtsartikel zu schreiben, der die Anti-Zucker-Studien entlarven sollte. Eine Übersichtsarbeit sollte es sein, weil diese – insbesondere, wenn sie in so renommierten (sogenannten „high-impact“) medizinischen Zeitschriften wie dem New England Journal of Medicine erscheinen – die gesamte wissenschaftliche Diskussion prägen beziehungsweise den Stand der Wissenschaft definieren.33 Hickson überwies Hegsted und Stare (ich möchte sie an dieser Stelle nicht mehr Wissenschaftler nennen) insgesamt 6.500 US-Dollar, was heute etwa 50.000 US-Dollar entspricht. Das Geld stammte von einer Handelsgruppe namens Sugar Research Foundation, die heute als Sugar Association bekannt ist. Erst 1984 begann zum Beispiel das New England Journal of Medicine damit, von Autoren zu verlangen, Zahlungen an sie oder ihre Arbeitsgruppen offenzulegen.
Hickson wählte selbst die Publikationen aus, die besprochen werden sollten, und machte deutlich, dass er wollte, dass das Ergebnis den Zucker „freispricht“. Hegsted beruhigte die Zuckerindustrie-Führungskräfte. „Wir sind uns Ihres besonderen Interesses sehr wohl bewusst“, schrieb er, „und werden darüber so gut wie möglich berichten.“ Während sie an ihrem Artikel arbeiteten, teilten und diskutierten Hegsted und Stare frühe Entwürfe mit Hickson, der wiederum „mit dem, was sie schrieben, zufrieden“ war. Hegsted und Stare hatten die Daten über Zucker als unzureichend und nicht aussagekräftig abgetan und die Daten, die gesättigte Fette anschuldigten, als medizinisch relevant eingestuft. „Lassen Sie mich Ihnen versichern, dass dies genau das ist, was wir im Sinn hatten, und wir freuen uns auf die Veröffentlichung im Druck“, schrieb Hickson.
Nachdem der Bericht veröffentlicht war, beeinflusste Hegsted die Ernährungsempfehlungen der Regierung, Fett als treibende Kraft für Herzkrankheiten hervorzuheben, während Zucker weitgehend lediglich als leere Kalorien in Verbindung mit Karies beschrieben wurde. Und dagegen helfe ja Zähneputzen (siehe oben). Hickson erreichte also sein Ziel; die Debatte über Zucker und Herzkrankheiten verebbte, während fettarme Diäten die Unterstützung vieler Gesundheitsbehörden erhielten.
Zu den fettarmen Produkten, die bis heute vermarktet werden, gehört zum Beispiel Magermilch (im Englischen skim milk), die in der Schweinezucht für Mastzwecke genutzt wird. Kinder, die einprozentige Magermilch tranken, hatten einen höheren Body-Mass-Index, also mehr Fett am Körper, als Kinder, die Vollmilch tranken.34 Auch heute noch sind die Warnungen vor Fett, insbesondere gesättigten Fettsäuren, ein Eckpfeiler der Ernährungsempfehlungen, obwohl in den letzten Jahren auch die American Heart Association, die Weltgesundheitsorganisation und andere Gesundheitsbehörden davor warnen, dass ein zu hoher Zuckerzusatz das Risiko von Herz-Kreislauf-Erkrankungen erhöht. Insgesamt wurde also 50 Jahre lang die Forschung über die Rolle der Ernährung und Herzkrankheiten einschließlich vieler der heutigen Ernährungsempfehlungen weitgehend von der Zuckerindustrie geprägt und die Diskussion über Zucker jahrzehntelang im Keim erstickt. Stattdessen wurde cholesterolarme Ernährung mit ungesättigten statt gesättigten Fetten, also Margarine statt Butter, gepredigt. Ich erinnere mich noch, wie ich zum ersten Mal in einem amerikanischen Supermarkt ungläubig Coca-Cola mit dem Aufdruck „cholesterol-free“ sah.
Sind eine derartige Einflussnahme und ein solcher Lobbyismus Geschichte und heutzutage undenkbar? Nein, die Lebensmittelindustrie beeinflusst weiterhin die Ernährungswissenschaft.35 Coca-Cola, der weltgrößte Hersteller zuckerhaltiger Getränke, unterstützt weiterhin Wissenschaftler, die den Zusammenhang zwischen zuckerhaltigen Getränken und Fettleibigkeit herunterspielen, und finanziert Studien, die behaupten, dass Kinder, die Süßigkeiten essen, dazu neigen, weniger zu wiegen als Kinder, die keine Süßigkeiten essen. Ob Studien zeigen, dass extrem zuckerhaltige Getränke wie die von Coca-Cola Fettleibigkeit und Typ-2-Diabetes fördern, hängt davon ab, wer für die Studie bezahlt hat. Zwischen 2001 und 2016 wurden 60 Studien über den Konsum von extrem zuckerhaltigen Getränken und deren Zusammenhang mit Fettleibigkeit und Diabetes veröffentlicht.