Geheilt statt behandelt. Prof. Dr. Harald Prof. Dr. Schmidt

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Geheilt statt behandelt - Prof. Dr. Harald Prof. Dr. Schmidt

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Fortschritt in der Medizin erhoffen …

      KAPITEL 3

      100 JAHRE UND NICHTS NEUES

      Medizinisch gibt es für „chronisch krank“ oder „Chroniker“ keine einheitliche Definition. Noch nicht einmal die Dauer ist definiert.1 Ist man schon ab einem Jahr des Leidens chronisch krank? Oder doch schon ab sechs Monaten oder erst ab zwei Jahren? Eher stehen chronisch Kranke unter lebenslanger medizinischer Kontrolle und Behandlung.

      Die meisten chronischen Erkrankungen – mit nur wenigen Ausnahmen – sind nicht übertragbar, also nicht ansteckend; es handelt sich damit nicht um Infektionskrankheiten. Ansonsten können ganz unterschiedliche Organe und Körperfunktionen betroffen sein: Gelenke (zum Beispiel Arthrose, Arthritis), Herz (zum Beispiel koronare Herzkrankheit, Herzinsuffizienz), Lunge (zum Beispiel Asthma, chronisch obstruktive Lungenkrankheit), Gehirn (psychische Störungen und Demenz), Niere (Diabetes) und im Prinzip alle Organe bei den verschiedenen Krebserkrankungen.

      Krankheiten nicht ursächlich zu verstehen und sie dadurch dauerhaft zu machen, das heißt zu chronifizieren, hat weitaus mehr Implikationen, als dass Arzneimittel dauerhaft eingenommen werden müssen oder auch als die Probleme der Polypharmazie bei mehreren Arzneimitteln. Die Zahl chronisch Erkrankter und das Ausmaß an Multimorbidität – also dem dauerhaften Leiden an mehreren Krankheiten gleichzeitig – kosten Lebensqualität, verkürzen das Leben und bilden inzwischen eine der wesentlichen Grundlagen für Strukturentscheidungen in unserem Gesundheitssystem; dies allerdings mit wenig Erfolg. Der vermeintliche Zuwachs an Lebenserwartung stagniert, ja in einigen Industrieländern sinkt die Lebenserwartung bereits und „mehr Geld“ ist offensichtlich nicht die Antwort. Die Probleme und Ursachen scheinen fundamentaler zu sein.

      Chronisch krank kostet Lebensqualität

      Dramatisch sind für chronisch Kranke und deren Angehörige oft die sozialen und familiären Konsequenzen. Denn sie haben neben dem Arzt sehr unterschiedliche Berührungspunkte mit dem Gesundheitsund Versorgungssystem, von der Pflege bis zum Sozialgericht. Diese sind meist viel häufiger und auch unerfreulicher und belastender als die eines „normalen“ Kranken. Zwar können auch ein Zuviel an Therapie und ständig wechselnde Ansprechpartner im Versorgungssystem erheblich belasten, viel dramatischer sind aber die großen Defizite zum Beispiel bei der Unterstützung psychisch erkrankter Menschen. Der Trend, die an sich erstrebenswerte Deinstitutionalisierung (das heißt die Ausgliederung behinderter Menschen aus der Verwahrung und Separierung in Heimen und Anstalten hin zu einem betreuten Alltag) auch auf psychisch Kranke auszudehnen, dies aber bei einem gleichzeitigen fatalen Mangel an parallelen, unterstützenden Maßnahmen, führt unter anderem zu hohen Arbeitslosenquoten und im Extremfall durch die Verknappung billiger Wohnungen zu Obdachlosigkeit. So treten unter Obdachlosen psychische Erkrankungen im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung sehr viel häufiger auf. 93,2 Prozent haben im Verlauf des Lebens die Kriterien für mindestens eine psychiatrische Diagnose (Persönlichkeitsstörungen ausgenommen) erfüllt.2 Das Projekt Seewolf untersuchte, ob die Obdachlosigkeit die psychische Erkrankung verursachte oder die psychische Erkrankung die Obdachlosigkeit. Bei zwei Dritteln der Befragten bestand das psychische Leiden schon, bevor sie ihr Dach über dem Kopf verloren, im Mittel 6,5 Jahre vorher. Dies legt nahe, dass schlecht versorgte psychisch Kranke überproportional in die Obdachlosigkeit abgleiten. Auch wenn dies ein Extrembeispiel ist, zeigt es, dass die Probleme chronisch Kranker weit über Krankheitssymptome, Medikation und sonstige Therapie hinausgehen.

      Der Rest der Bevölkerung merkt hiervon allerdings wenig, denn chronisch krank zu sein macht einsam und Einsamkeit hält eine Erkrankung aufrecht oder verstärkt sie.3 Das Risiko der Vereinsamung und sozialen Isolation, zum Beispiel durch Krankheit, hat zudem vielfach ökonomische Ursachen beziehungsweise diese erhöhen das Risiko. Der Anteil an Personen mit wenigen oder keinen sozialen Beziehungen steigt mit fallendem Einkommen. Menschen im unteren Einkommensbereich sind sehr viel weniger in soziale Beziehungsnetzwerke eingebunden als die Durchschnittsbevölkerung.4 Chronische Erkrankungen haben also einen dramatischen bis existenziellen Einfluss auf Lebensqualität und Lebensfreude, was an sich inakzeptabel für unsere Solidargemeinschaft sein sollte – aber leider reichen die Auswirkungen noch weiter …

      Chronisch krank verkürzt das Leben

      Sie könnten sich fragen: Wieso verkürzt chronisch krank zu sein das Leben, wenn doch unsere Hightechmedizin so viel erreicht hat, insbesondere eine immer weiter steigende Lebenserwartung beziehungsweise sinkende Sterblichkeit? Darüber liest man doch allenthalben. In der Tat sind zumindest in relativ hoch entwickelten Ländern seit 1900 die Sterblichkeit deutlich gesunken und die Lebenserwartung gestiegen (Abbildung 6). Wir sind also gesünder und leben länger. Aber! Worauf ist dies zurückzuführen? Zum allergrößten Teil ist dies ein Ergebnis dessen, dass wir Infektionen vermeiden oder, wenn es zu einer Infektion gekommen ist, diese wirksam behandeln können. Hierzu haben drei Komponenten beigetragen:

      1.bessere Hygiene,

      2.die Möglichkeit, sich impfen zu lassen, und

      3.im Falle einer Infektion Antibiotika.

      Rechnet man den Anteil dieser drei Maßnahmen und Therapien heraus, bleibt nicht mehr viel übrig von medizinischer Innovation, eigentlich nichts. Einige Todesursachen haben an Bedeutung verloren, andere – insbesondere diejenigen, die durch chronische Erkrankungen verursacht sind – spielen dafür eine größere Rolle. Rechnet man den Effekt, Infektionen wirksamer vermeiden oder behandeln zu können, heraus, bleibt überraschenderweise seit 1900 keine Verbesserung der Sterblichkeit beziehungsweise Lebenserwartung übrig.5 Der Rückgang der Mortalität durch Infektionskrankheiten verlief parallel zum Rückgang der Gesamtmortalität in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Sterblichkeitsrate durch alle sonstigen, nicht infektiösen Ursachen ist erstaunlicherweise seit 1900 konstant, lediglich mit einigen kleinen Schwankungen von Jahr zu Jahr. Wann immer es einen Anstieg der Gesamtsterblichkeit gab, dann erfolgte er im Allgemeinen in denselben Jahren, in denen auch die Sterblichkeitsrate durch Infektionskrankheiten zunahm. Jetzt könnten Sie denken: Wenn Menschen älter werden, kommen neue Erkrankungen wie zum Beispiel Krebs oder Alzheimer hinzu, die dann auch wieder zur Sterblichkeit beitragen. Oder: Früher haben die Menschen keinen Krebs gehabt, weil sie gar nicht so alt wurden, um ihren Krebs zu erleben. Das stimmt jedoch nicht; die Form dieser Kurven ändert sich wenig, wenn die Daten altersbereinigt an die Bevölkerung des Jahres 2000 angepasst werden. Auch die Anpassung der Daten zur Berücksichtigung von Änderungen in der Krankheitsklassifikation (also zum Beispiel weniger Herz-Kreislauf-Erkrankungen, dafür mehr Lungenerkrankungen und Krebsarten) führt nur zu einer geringen Änderung der allgemeinen Form der Kurve.

      Abb. 6: Die Sterblichkeitsraten für alle Ursachen (gestrichelte Linie), nicht infektiöse Ursachen (durchgehende Linie) und Infektionskrankheiten (gepunktete Linie) in den USA von 1900 bis 1996.

      Die Mortalität durch Infektionskrankheiten ging in den ersten acht Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts von 1900 bis 1980 deutlich zurück. Der Rückgang wurde allerdings jäh durch einen katastrophal starken Anstieg der Sterblichkeitsrate unterbrochen, der durch die sogenannte Spanische Grippe von 1918 verursacht wurde. Von 1938 bis 1952 war der Rückgang der Sterblichkeit pro Jahr besonders rasant. Im gesamten 20. Jahrhundert waren Lungenentzündungen und Grippe (Influenza) für die Mehrzahl aller Todesfälle durch Infektionskrankheiten verantwortlich, nach 1945 aber kaum noch Tuberkulose und Lungenentzündungen und Grippe deutlich weniger. In den 1980er- und frühen 1990er-Jahren

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