Geheilt statt behandelt. Prof. Dr. Harald Prof. Dr. Schmidt
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Es fällt auf, dass der Schaden, der von Statinen verursacht werden kann, weniger publik gemacht wird als der überschaubare Nutzen. Am häufigsten tritt bei der Behandlung mit Statinen ein schwerer Muskelschmerz beziehungsweise Muskelschaden auf, eine Nebenwirkung, die sich noch relativ gut bemerken und den Statinen zuordnen lässt. Die hier aufgeführte Häufigkeit von 1:10, also zehn Prozent, ist eher eine relativ konservative Schätzung für diese Nebenwirkung.8 Diese ist aber möglicherweise der Hauptgrund, warum Patienten Statine so häufig eigenmächtig absetzen oder zumindest unregelmäßig einnehmen.9
Tab. 2: Vorteile (Number Needed to Treat, NNT) und Schäden (Number Needed to Harm, NNH) einer Therapie mit cholesterinsenkenden Statinen zur Vorbeugung von Herzkrankheiten bei Patienten ohne vorherige Herzerkrankung.7
Eine weitere, besorgniserregende Nebenwirkung ist ein durch Statine neu aufgetretener Diabetes mellitus.10 Das Risiko von 1:50 ist dabei eher konservativ geschätzt. Da zehn Prozent aller Deutschen inzwischen bereits Diabetiker sind, besteht bei diesen Patienten das Risiko, einen bestehenden Diabetes noch weiter zu verschlechtern, wodurch die Patienten unfähig werden, ihren Diabetes mithilfe von Lebensstiländerungen jemals in den Griff zu bekommen oder heilen zu können. Da solche Patienten in der Regel von Statin-Studien ausgeschlossen sind, kann man dieses Risiko nur schätzen. Auch sind die Quellen der überwiegenden Mehrheit dieser Daten industriegesponserte und -finanzierte Studien, was darauf hindeutet, dass die obigen Zahlen (1:50-Risiko) eher ein Best-Case-Szenario darstellen.
Sind Statine also eine geeignete Wahl für die Verhinderung eines Herzinfarkts oder Schlaganfalls? Zumindest verdeutlicht dieses Beispiel, dass man bei dem Symptom „erhöhtes Cholesterin“ nicht unbedingt reflexhaft ein Statin einnehmen muss. Das sollte gemeinsam mit einem oder mehreren Ärzten sorgfältig überdacht werden – natürlich auch vor allem mit Blick auf individuelle Präferenzen des Patienten. Im besten Fall ist ja durchaus ein Nutzen der Statine gegeben, der mögliche Schaden wird aber leicht unterschätzt. Die Alternative einer Lebensstiländerung wie zum Beispiel einer mehr oder rein pflanzlichen Ernährung ist wesentlich wirksamer als Statin-Medikamente, um kardiovaskuläre Vorteile zu erzielen, und das, ohne potenzielle Schäden zu verursachen.
Es gibt aber einen weiteren Trick, um diesen inzwischen mehr und mehr publik gewordenen Nachteil aus dem Fokus zu nehmen und die Risikoverminderung durch ein Arzneimittel marketingtechnisch schönzurechnen. Und ich denke, dass auch so mancher Arzt darauf schon reingefallen ist. Leider müssen wir dazu noch etwas mehr in die Trickkiste der Mathematik greifen. Folgen Sie mir, es lohnt sich.
Absolutes und relatives Risiko
Mit einer Arzneitherapie will ich oft nicht nur ein Symptom beseitigen, sondern ein damit assoziiertes Risiko langfristig senken. Nun gibt es zwei Arten, wie man dieses Risiko darstellen kann: absolut und relativ.
Bei kontrollierten klinischen Studien medizinischer Interventionen (Medikamente, Operationen und so weiter) gibt es immer einen möglichst patientenrelevanten Endpunkt, das heißt, dass gemessen werden kann, ob die Intervention im Vergleich zur Standardtherapie besser war oder nicht. Im dramatischsten Fall kann das sein: weniger Todesfälle oder – wie in der Abbildung 4 – keinen Herzinfarkt oder keinen Schlaganfall zu erleiden.
In den Informationen, die gern auch von der pharmazeutischen Industrie verwendet werden, wird oft ein anderer Wert berechnet und kommuniziert, der weitaus beeindruckendere Zahlen hergibt: die Relative Risiko-Reduktion (RRR). In Abbildung 4 habe ich die Zahlen ein wenig vereinfacht, um sie leichter umrechnen zu können. Gehen wir von einer NNT von 1:50 für das Vermeiden eines Todesfalls aus. Das bedeutet in Prozent, dass zwei Prozent aller behandelten Patienten tatsächlich einen Vorteil haben, weil sie nicht sterben. Nun sterben ja glücklicherweise die allerwenigsten Patienten im Laufe einer klinischen Studie. Nehmen wir einmal an, es sind – ohne Behandlung – von 100 Patienten normalerweise zehn, die sterben, und nun – mit Behandlung – zwei weniger, also nur acht, die noch sterben. Zwei Prozent ist dann die Absolute Risiko-Reduktion (ARR). Klingt nicht besonders beeindruckend, ist aber ehrlich und bezieht alle Patienten ein, die mit dem Medikament behandelt wurden. 98 Prozent der Patienten haben demnach keinen Vorteil: 90 Prozent wären sowieso nicht gestorben und acht Prozent sind trotz des Medikaments gestorben.
Nun lässt sich aber auch ein anderer Wert berechnen, der nicht grundsätzlich falsch ist, aber irreführend verwendet werden kann und oft so verwendet wird, die Relative Risiko-Reduktion (RRR). Hierzu schaut man sich nur die Todesfälle an und ignoriert alle anderen Patienten, die das Medikament auch noch, aber sinnloserweise genommen haben. Ohne Therapie sind demnach zehn gestorben, mit Therapie nur acht, also eine beeindruckender klingende 20-prozentige Reduktion dieses relativen – das heißt nur auf die Todesfälle bezogenen – Risikos (RRR). Nicht falsch, aber maximal geschönt.
Abb. 4: Relative (RRR) und Absolute Risiko-Reduktion (ARR) einer Therapie. 100 Patienten werden behandelt. Unbehandelt (weiße Balken) würden zehn sterben, behandelt (schwarze Balken) nur acht. Zwei von 100 (zwei Prozent) leben dank der Therapie weiter, haben also einen Vorteil. Das Absolute Risiko (ARR) wurde um zwei Prozent reduziert; die NNT ist 50. Acht sterben aber trotzdem; 90 hätten so oder so weitergelebt; macht zusammen 98 Prozent der Patienten, die keinen Vorteil haben. Schaut man sich jedoch nur die zehn Todesfälle an, wird diese Zahl durch die Behandlung um 20 Prozent von zehn auf acht relativ reduziert (RRR).
Das Problem mit dieser Art von Beschreibung ist, dass sie zwar mathematisch und semantisch korrekt, aber zutiefst irreführend ist. Das liegt daran, dass ja beide, Patient und Arzt, vor Beginn einer Behandlung nicht wissen können, ob einem Patienten durch die Behandlung geholfen, ob er geschädigt oder gar nicht beeinflusst wird. Wenn in einem Gespräch mit einem Patienten die RRR verwendet wird, um zu beschreiben, wie wahrscheinlich es ist, dass die Therapie Erfolg hat (das heißt, es reduziert in obigem Beispiel die Chance, zu sterben, um 20 Prozent), dann haben wir die viel größere Wahrscheinlichkeit (das heißt 98 Prozent, wie wir oben berechnet haben), dass ein Patient keinen Vorteil haben wird, ignoriert.
Personen oder Gruppen, die ein kommerzielles Gewinnmotiv haben, können so versuchen, einen Patienten in eine bestimmte Richtung zu beeinflussen. An dieser Stelle wäre die NNT am wertvollsten, nämlich als Instrument zur Standardisierung der Kommunikation. Die NNT verwendet nur die ARR. Wenn Patienten und Ärzte die NNT verwenden, gibt es keine Täuschung oder Übertreibung hinsichtlich der zu erwartenden Wirkung. Hat man einmal die Berechnung und das Konzept der NNT verstanden, ist sie leicht anzuwenden. Aber so offensichtlich sinnvoll, wie die NNT ist, so wenig wird sie leider im täglichen medizinischen Alltag benutzt. Viele Ärzte sind sogar überrascht, wie hoch die NNT für die von ihnen routinemäßig verschriebenen Arzneimittel ist – obwohl doch jeder Arzt klinische Studien richtig lesen und kritisch interpretieren können sollte.
Nun fehlt noch eine weitere Komplikation für all diese Überlegungen: der Wechsel von relativ künstlichen Studiendaten zu sogenannten Real-World-Daten, also Daten mit Relevanz für ganz normale Patienten wie Sie, nicht nur die, die für die Zulassungsstudie der Industrie handverlesen wurden. Diese Daten können naturgemäß erst nach der Zulassung in sogenannten Nachbeobachtungsstudien erhoben werden, wenn das neue Arzneimittel im