Geheilt statt behandelt. Prof. Dr. Harald Prof. Dr. Schmidt

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Geheilt statt behandelt - Prof. Dr. Harald Prof. Dr. Schmidt

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1: Arzneimitteltherapien, die aufgrund einer klinischen Studie in der angegebenen Indikation als ausreichend wirksam beurteilt wurden, und, im Vergleich dazu, der Prozentsatz der Patienten, die von dieser Behandlung einen oder keinen Vorteil hatten.4

      Einen Wermutstropfen gibt es allerdings, denn wirklich übertragbar auf Sie als Patient sind diese Erfolgsraten dann wahrscheinlich doch leider nicht. In derartigen Studien werden nämlich die teilnehmenden Patienten handverlesen, damit die Studie auch ja positiv wird; mit Ihnen haben diese Patienten möglicherweise wenig zu tun – zum Beispiel eher mittleres Alter, sonst keine weiteren Beschwerden und so weiter. Außerdem werden Patienten in Studien sehr genau daraufhin überwacht, ob sie ihre Arzneimittel auch regelmäßig und in der richtigen Menge eingenommen haben. In der Realität ist das ja leider anders. Schon mir fällt es schwer, wenn ich mal ein Antibiotikum für ein paar Tage einnehmen muss, mich jeden Morgen und Abend daran zu erinnern. Gerade ältere Patienten bekommen aber in der Realität oft vier und mehr Medikamente aufgeschrieben. Da vergisst man mal leicht eines oder die Gewissenhaftigkeit (die sogenannte Compliance) lässt nach und das Medikament wird über weite Strecken gar nicht mehr oder doppelt eingenommen.

      Ein typisches Beispiel für schlechte Patienten-Compliance sind die zur Blutdrucksenkung eingesetzten Betablocker. Eine ihrer Nebenwirkungen ist, dass sie paradoxerweise die Blutgefäße an Händen, Füßen, aber bei Männern auch im Penis verengen. Eine Konsequenz sind daher Potenzprobleme, weswegen die Patienten dann gern einmal oder auch längere Zeit den Betablocker weggelassen. Kurz vor dem nächsten Arztbesuch werden sie natürlich wieder eingenommen. Der Blutdruck ist dann normal und alle sind zufrieden. Jetzt könnten Sie denken: Egal, die Chance, dass der Betablocker dem Patienten hilft, ist doch nach meinen Erläuterungen ohnehin klein. Sie ist klein, das stimmt, aber dieser Patient könnte genau der eine „Glückliche“ sein, dem der Betablocker das Leben rettet, und an all den Tagen, an denen er ihn nicht eingenommen hat, entfällt diese – wenn auch kleine – Chance, dass der Betablocker einen Herzinfarkt oder Schlaganfall verhindert (siehe die folgende Seite zur Number Needed to Treat).

      Zum anderen werden in großen Studien, bei denen es, nachdem viele Millionen Euro in die Entwicklung investiert wurden, letztlich um die Zulassung geht, die Patientengruppen so zusammengestellt, dass die Wahrscheinlichkeit eines positiven Effekts möglichst hoch ist. Das kann heißen, Patienten mit hohem Risiko oder schweren Symptomen auszuwählen, nicht zu alt, aber auch nicht zu jung und mit möglichst wenigen zusätzlichen Erkrankungen. Nach der Zulassung in der alltäglichen ärztlichen Praxis werden dann natürlich auch Patienten mit leichteren Symptomen oder niedrigerem Risiko, auch ältere Patienten als in der Studie und auch solche mit weiteren Erkrankungen behandelt. Dies hat dann bei solchen sogenannten „Real World“-Patienten zur Konsequenz, dass die Wirkung noch geringer beziehungsweise die Nebenwirkungen stärker sind als in der ursprünglichen Zulassungsstudie. Bei einigen Medikamenten wie Statinen, die routinemäßig zur Senkung des Cholesterinspiegels eingesetzt werden, kann es dann sein, dass unter den normalen Patienten nur noch einer von 50 davon profitiert; bei Bluthochdruckmitteln nur noch einer von 100. Zur Erinnerung: Dies bedeutet für 49 beziehungsweise 99 Patienten, dass es für sie in dem Beispiel keinen Unterschied macht, ob sie ihre Arzneimittel nehmen oder nicht, sie werden keinen Vorteil haben, eher Nachteile.

      Da wir gegenwärtig in der Medizin keine Möglichkeit haben, diese beiden Patientengruppen – die, die einen Vorteil haben, und die vielen anderen, die keinen Vorteil haben werden – auseinanderzuhalten und daher alle therapieren müssen, sollten Sie all diese Beispiele gegenwärtig bitte nicht (!) zum Anlass nehmen, auch nur eines Ihrer Medikamente abzusetzen. Sie wissen ja nicht, zu welcher Gruppe Sie gehören; vielleicht genau zu der, denen das Medikament das Leben rettet, das heißt zum Beispiel einen schweren Herzinfarkt oder Schlaganfall verhindert. Wir wissen es einfach nicht und Ihr Arzt auch nicht. Es ist also nicht ein Fehler Ihres Arztes, Ihnen dieses Medikament zu verschreiben. Es gibt gegenwärtig keine bessere Alternative. Es ist wahrscheinlich noch nicht einmal ein Fehler Ihres Arztes, Sie nicht über die mangelnde Präzision Ihres Arzneimittels und die geringe Wahrscheinlichkeit, dass Sie davon profitieren werden, aufzuklären. Würde er das bei allen Patienten machen, würde wahrscheinlich bald gar kein Patient mehr seine Medikation nehmen, auch diejenigen, deren Leben er damit hätte retten können. Wenn die möglichen Nebenwirkungen also nicht allzu ernst sind, nimmt man dieses Risiko eben in Kauf. Man muss es in Kauf nehmen.

      Sie könnten sich jetzt denken, dass das ja fast nach einem Skandal klingt. Habe ich mir hier als Autor ein paar extreme Arzneimittelbeispiele herausgesucht, um zu dramatisieren und meinen Punkt zu machen? Wirken viele der anderen Arzneimittel nicht doch bei den meisten Patienten? Nein, lassen Sie uns dazu noch etwas tiefer in die Zahlen eintauchen (nicht zu tief, keine Angst, ich bin kein Freund von Mathematik, aber es ist wichtig und erhellend), und zwar in den Begriff der „Number Needed to Treat“ …

      Die Number Needed to Treat

      Es gibt einen Weg, um zu verstehen, wie viel die aktuelle Medizin dem einzelnen Patienten zu bieten hat. Es handelt sich um ein einfaches statistisches Konzept, das „Number Needed to Treat“ oder kurz „NNT“ genannt wird, auf Deutsch: die Patientenanzahl, die behandelt werden muss, damit ein Patient einen Vorteil hat. Die NNT misst die Wirkung eines Medikaments oder einer anderen Therapie, wie zum Beispiel einer Operation, indem sie die Anzahl der Patienten schätzt, die behandelt werden müssen, um eine positive, gewünschte Wirkung für eine einzige Person zu erzielen, zum Beispiel ein Krankheitsrisiko wie Herzinfarkt oder Schlaganfall zu senken beziehungsweise zu eliminieren. Das Konzept ist zwar etwas trockene Statistik, aber doch einleuchtend, denn wir wissen ja inzwischen, dass nicht allen Menschen durch ein Medikament oder eine Intervention geholfen wird – manche profitieren, manche werden geschädigt und manche bleiben unbeeinflusst.

      Die NNT lässt sich aus jeder klinischen Studie mit einem Arzneimittel oder einer anderen Intervention wie einer Operation et cetera berechnen. Da die meisten Medikamente und Interventionen irgendwann einmal in einer klinischen Studie untersucht worden sind, können wir eine NNT für viele (wenn nicht sogar für die meisten) der ärztlichen Behandlungen abschätzen. Das bedeutet, dass Ärzte und ihre Patienten die Wahrscheinlichkeit, dass einem Patienten durch ein bestimmtes Medikament oder Verfahren geholfen oder Schaden zugefügt wird, leicht bestimmen können. Für jedes Ihrer Arzneimittel und die dazugehörige Anwendung können Sie die NNT recherchieren: auf der Internetseite des NNT-Teams.5 Diese seit 2010 bestehenden Gruppe von Ärzten, geleitet von dem Notfallmediziner Prof. Shahriar Zehtabchi, hat ein einzigartiges System entwickelt, um entweder Therapien (auf der Grundlage ihres patientenrelevanten Nutzens beziehungsweise Schadens) oder Diagnostik (anhand von Symptomen, Labortests oder klinischen Studien) für jedermann nachvollziehbar sehr einfach zu bewerten, wenn auch auf Englisch.

      Neben der NNT lässt sich übrigens noch eine zweite, auch nicht unwichtige Zahl berechnen, nämlich die „Number Needed to Harm“ (NNH), auf Deutsch: die Zahl an Patienten, die behandelt werden muss, damit ein Patient eine relevante, schwere Nebenwirkung zeigt, für die die Behandlung verantwortlich ist. Eigentlich muss man diese Zahlen vergleichen, um eine Nutzen-Schaden-Bilanz zu erstellen.

      Das NNT-Team verwendet nur die qualitativ hochwertigsten, evidenzbasierten Studien6 und akzeptiert weder Drittmittel noch Werbung. Man kann dort zum Beispiel nach den Cholesterinsenkern (Statinen) suchen und findet dann verschiedene Optionen (Tabelle 2): zur Herz-Kreislauf-Prävention mit oder ohne vorbestehendem Risiko, bei bekannter Herzkrankheit oder bei akuter Angina Pectoris beziehungsweise Herzinfarkt. Betrachten wir den häufigsten Fall: Ohne dass ein Patient schon einmal eine vorherige Herzerkrankung hatte, wird aufgrund seines allgemeinen Risikos und von erhöhten Cholesterinwerten im Blut ein Statin verschrieben, und zwar zur Prävention von schweren Herz-Kreislauf-Krankheiten, also einer Herzattacke oder eines Schlaganfalls oder sogar des Todes.

      Es überrascht, dass kein einziges Leben gerettet wird und nur zwei schwere Ereignisse

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