Geheilt statt behandelt. Prof. Dr. Harald Prof. Dr. Schmidt

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Geheilt statt behandelt - Prof. Dr. Harald Prof. Dr. Schmidt

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In Deutschland wurde keine der sechs Nachzulassungsstudien, die auf der Grundlage der ersten Bewertung beantragt worden waren und zwischen 2011 und 2017 zur Neubewertung anstehen sollten, tatsächlich durchgeführt. Weltweit tun Aufsichtsbehörden wenig, um nicht kooperierende Unternehmen zu sanktionieren.

      Pseudo-Innovation „Me too“

      Selbst unter den Medikamenten mit einem Zusatznutzen gibt es viele Pseudo-Innovationen, sogenannte „Me too“-Präparate. „Me too“ heißt im Deutschen „Ich auch“. Hat eine Firma ein wirksames Arzneistoffprinzip entdeckt, ziehen andere Firmen nach und wollen auf Basis desselben Prinzips auch Arzneimittel auf den Markt bringen. Ähnlich wie in der Autoindustrie: Fängt eine Firma an, erfolgreich SUVs zu verkaufen, wollen das alle. Fängt ein anderer an, Mini-SUVs zu verkaufen, ziehen wieder alle nach. Innovation ist das nicht, zumindest würde sich kein Autobauer trauen, das zu behaupten.

      So ergab die IQWiG-Analyse, dass in Deutschland 12 von 48 erfolgreichen Bewertungen (25 Prozent) in der Onkologie dasselbe Wirkprinzip hatten. Auch die verschiedenen Medikamente, die bei Hepatitis C einen Zusatznutzen zeigten, verwenden alle einen der drei gleichen Mechanismen oder kombinierten diese. Ein Medikament, das ähnlich ist, bedeutet zwar nicht automatisch, dass es das gleiche ist. Prinzipiell könnten unterschiedliche Nebenwirkungsprofile Behandlungen für solche Patienten ermöglichen, für die andere Arzneimittel mit demselben Wirkprinzip unverträglich sind. Dies wird aber bereits standardmäßig ohnehin durch das IQWiG als zusätzlicher Nutzen berücksichtigt.

      Und auch die Zukunft verheißt nichts Gutes. Die Analysen der Entwicklungspipelines für Medikamente zeigen ein ähnliches Muster. Eine große Zahl laufender und geplanter Studien in der Onkologie untersucht Medikamente mit demselben Mechanismus.19 Aus Patientensicht ist dies in zweierlei Hinsicht bedenklich. Einerseits nehmen diese Patienten an Studien teil, von denen keine echte Verbesserung gegenüber der Standardtherapie zu erwarten ist, andererseits stehen sie anderen, möglicherweise wirklich innovativen Studien nicht zur Verfügung (zum Problem klinischer Forschung in Deutschland komme ich später noch). So wird Geld für überflüssige Entwicklungen verschwendet und versäumt, neue Ansätze mit anderen Wirkmechanismen zu entwickeln und testen. Der „Me too“-Trend ist eines der größten Hindernisse für ernsthafte therapeutische Fortschritte.20

      Angesichts der derzeitigen Informationslücken ist es nicht möglich, Ärzten und vor allem Patienten unparteiische und vollständige Informationen darüber zur Verfügung zu stellen, was sie von einer bestimmten Behandlung zu erwarten haben, einschließlich Informationen über den Nutzen alternativer Behandlungen oder keiner Behandlung. Dadurch wird die Fähigkeit der Patienten, informierte Behandlungsentscheidungen im Einklang mit ihren Präferenzen zu treffen, beeinträchtigt. Letztlich führt das zu einer unethischen Situation für ein Gesundheitssystem wie das unsrige, das sich als patientenzentriert bezeichnet.21 Da die Arzneimittelentwicklung, -zulassung, -erstattung und -preisgestaltung stark reguliert sind, deutet der derzeitige Stand der Dinge letztlich auf ein Versagen der Gesundheitspolitik hin.

      Oft wird als letztes Gegenargument noch behauptet, dass mehrere „Me too“-Arzneimittel auf dem Markt die Kosten nach unten treiben würden, da sich das Gesundheitssystem dann nicht mit einem Monopol und möglicherweise anhaltend hohen Preisen konfrontiert sehen würde. Leider erfüllt sich diese Hoffnung auf wettbewerbsbedingte Preissenkungen oft nicht.22 Und selbst wenn es einen wesentlichen Einfluss auf die Preisgestaltung gäbe, würde dies noch immer nicht die immense „Me too“-Entwicklung erfordern, wie dies gegenwärtig der Fall ist.23

      Doch selbst das effektivste und für sich allein sicherste Medikament kann noch Probleme erzeugen. Denn wer nimmt die meisten Medikamente? Ältere Menschen. Und die haben meistens mehr als ein Symptom. So nehmen viele mit der Zeit eine nur noch schwer überschaubare Menge an von verschiedenen Ärzten verschriebenen und selbst gekauften Arzneistoffen ein. Diese tagtägliche therapeutische Realität wird Polypharmazie genannt und schafft Probleme, welche die Patienten ohne Arzneimittel nie gehabt hätten …

      Polypharmazie

      Wir befinden uns im Zeitalter der Polypharmazie und setzen immer mehr Medikamente gleichzeitig zur Behandlung der meisten wichtigen Herz-Kreislauf-Erkrankungen ein, darunter Herzschwäche, Angina Pectoris und Erkrankungen der Herzkranzgefäße sowie Bluthochdruck. Eine typische, leitliniengerechte medikamentöse Behandlung der Herzschwäche umfasst heute zum Beispiel vier und mehr Arzneistoffe für denselben Patienten. Die meisten Patienten mit Durchblutungsstörungen des Herzmuskels erhalten heute Aspirin, Betablocker, Nitrate, ACE-Hemmer, Statine und Clopidogrel. So erhalten 80-jährige Patienten im Schnitt acht Arzneimittel. Das verwundert nicht, wenn man sich klarmacht, dass jede therapeutische Leitlinie pro Diagnose im Schnitt drei Arzneimittel empfiehlt.

      Eigentlich ist der Begriff Polypharmazie unfair. Er legt nahe, viele Arzneimittel würden unkontrolliert von der Pharmazie, also dem Apotheker, abgegeben. Dem ist aber nicht so; die meisten Probleme resultieren daraus, dass verschiedene Ärzte mehrere Arzneimittel für denselben Patienten verschreiben, ohne die Verordnungen der anderen Ärzte und eventuelle Selbstmedikationen des Patienten gegenzuchecken. Es ist also fairerweise gesagt in der Regel ein ärztliches Problem, eine Polymedizin.

      Ältere Menschen gelten, wie Kinder und Schwangere, medizinisch gesehen als besondere Bevölkerungsgruppe. Das haben wir ja zum Beispiel in der Covid-19-Pandemie erlebt. Was Arzneimittel betrifft, weisen ältere Menschen im Vergleich zum Rest der Bevölkerung große Unterschiede hinsichtlich dessen auf, wie ihr Körper mit Arzneimitteln interagiert. Dies betrifft die Aufnahme in den Körper, zum Beispiel aus einer Tablette, wie sich der Arzneistoff verteilt, wie er verstoffwechselt und wie er wieder ausgeschieden wird. Aber auch unabhängig hiervon sind die Wirkung des Arzneimittels, dessen Verträglichkeit und die Compliance des Patienten (also die Regelmäßigkeit, mit der ein dauerhaft verschriebenes Arzneimittel eingenommen wird) beim älteren Menschen stark beeinträchtigt. Ist zum Beispiel die Leberfunktion eingeschränkt, werden viele Arzneistoffe langsamer verstoffwechselt, was zu höheren Blutspiegeln und einer viel zu starken Wirkung führen kann. Ebenso kann die Nierenfunktion eingeschränkt sein, was auch dazu führt, dass ein Arzneistoff langsamer über den Urin ausgeschieden wird, wodurch sich wieder Blutspiegel und damit Wirkungsstärke über einen längeren Zeitraum erhöhen.

      Für einen einzelnen Arzneistoff könnte dies noch durch einen sorgfältig verschreibenden Arzt, der zum Beispiel berücksichtigt, wie ein Arzneistoff verstoffwechselt und ausgeschieden wird und wie Leber- und Nierenfunktion des Patienten sind, über eine veränderte Dosierung angepasst werden. Das Problem ist aber, dass ältere Personen häufig mehrere Medikamente einnehmen, da im Alter mehr und mehr Krankheitsdiagnosen hinzukommen. So haben ältere Menschen ab einem Alter von über 80 Jahren im Durchschnitt drei Diagnosen24, die dadurch, dass pro Diagnose oft mehr als ein Arzneimittel verschrieben wird und noch Selbstmedikation hinzukommt, zur Polypharmazie führen. In Deutschland nehmen ein Drittel aller Männer und Frauen über 65 Jahre fünf oder mehr Medikamente ein.25

      Das Fatale ist, dass hierdurch bei älteren Personen die Wahrscheinlichkeit unerwünschter Arzneimittelwirkungen, die einen Krankenhausaufenthalt erfordern, fast siebenmal so hoch ist wie bei jüngeren Personen.26 Unerwünschte Arzneimittelwirkungen sind mit einem durchschnittlichen Anteil von 6,5 Prozent ein relevanter Grund für Vorstellungen in der Notaufnahme, führen häufig zu stationären Aufnahmen in Krankenhäusern27 und sind die vierthäufigste Todesursache.28 Gemäß einer Studie der Europäischen Kommission beläuft sich die volkswirtschaftliche Belastung in Deutschland bei Krankenhausaufenthalten durch arzneimittelbezogene Probleme auf circa 4,94 Milliarden Euro. Die Kosten für Medikationsfehler wurden seitens der Europäischen Kommission für 2016 auf bis zu 5.689 Euro pro Patientenfall geschätzt.

      Da diese Gruppe älterer Menschen oft von Arzneimittelstudien ausgeschlossen wird (man will ja ein möglichst

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