Geheilt statt behandelt. Prof. Dr. Harald Prof. Dr. Schmidt
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Ähnlich verhält es sich übrigens bei der Arzneitherapie für Kinder. Hier gibt es so gut wie keine klinischen Studien und sämtliche Dosierungen sind Schätzwerte. Viele Arzneimittel, die bei Kindern eingesetzt werden, sind nicht ausreichend an Kindern geprüft (welche Eltern würden ihr Kind schon für eine Arzneimittelstudie zur Verfügung stellen, außer es handelt sich um eine lebensbedrohliche Situation und die letzte Rettung) und deshalb auch nicht für Kinder zugelassen. Daher ist die geeignete – das heißt die zugleich wirksame und sichere – Dosierung in der Regel überhaupt nicht bekannt. Zusätzlich fehlt es häufig an für Kinder geeigneten Darreichungsformen. So sind Kinder- und Jugendmediziner häufig darauf angewiesen, Arzneimittel, die eigentlich nur an Erwachsenen ausreichend geprüft wurden, auch bei Kindern anzuwenden. Aber das nur am Rande. Kinder nehmen ja in der Regel nur gelegentlich und dann nur wenige Arzneimittel ein, haben also kein Polypharmazie-Problem.
Viele Medikamente fördern gerade bei älteren Patienten Verwirrtheit bis hin zur medikamentös verursachten Demenz, erhöhen die Sturzgefahr und verlängern die Behandlungszeiten im Krankenhaus. Um nun die Arzneimitteltherapie bei älteren Patienten sicherer zu machen und polypharmaziebedingte Krankenhauseinweisungen und Todesfälle zu vermeiden, wurden sogenannte Negativlisten entwickelt, zum Beispiel die Beers-Kriterien-Liste, die STOPP-Kriterien-Liste (Screening Tool of Older Person’s Prescription) oder die deutsche PRISCUS-Liste.29 Sie sind entwickelt worden, um die Optimierung von Medikationsschemata durch Streichung von Arzneimitteln zu unterstützen. Solche Negativlisten sind zwar einfach anzuwenden, da es sich um eindeutige Empfehlungen handelt, die keine vertieften Kenntnisse über den Patienten erfordern. Allerdings gibt es keine Untersuchung, ob durch diese Elimination von Arzneimitteln das Problem der Polypharmazie behoben ist, also weniger Krankenhauseinweisungen und Todesfälle vorkommen.30
Leider wird dennoch in Kliniken der Medikationsplan solcher Patienten zu selten „aufgeräumt“. Zum einen fehlt die pharmazeutische Kompetenz. Während es international gang und gäbe ist, dass die Diagnose Sache des Arztes, die Arzneitherapie aber mindestens zur Hälfte die des Apothekers ist, sind in Deutschland Ärzte noch komplett Herr von beidem. Nirgendwo in Europa gibt es so wenig Apotheker in Krankenhäusern wie in Deutschland. Während in Großbritannien im Durchschnitt 4,4 Apotheker pro 100 Betten im Krankenhaus beschäftigt sind, gibt es in Deutschland weniger als 0,4. In Ländern wie den Niederlanden, den USA und Großbritannien legen Apotheker zusammen mit den Ärzten die Arzneimitteltherapie fest und sind sogar bei den Visiten anwesend. In den Krankenhäusern der USA gibt es 17,5 Apotheker pro 100 Betten. Die US-amerikanischen Apotheker errechnen jede Dosierung und stellen die Medikamente anhand von Listen mit Wechselwirkungen und den Vorgaben der Ärzte zusammen. Dies trifft in Deutschland nur in Einzelfällen zu. In den meisten Kliniken kommt der Apotheker nur zweimal im Jahr im Rahmen der gesetzlich vorgeschriebenen Begehungen auf Station.31 Hier prescht allein Niedersachsen voran. Spätestens ab 2022 sollen Stationsapotheker dort in den Kliniken zur gesetzlichen Pflicht werden. Allerdings nicht aufgrund dessen, dass man sich international umgeschaut hätte und die Versorgung geriatrischer Patienten verbessern möchte, sondern vor allem als Folge der Mordserie des Krankenpflegers Niels Högel in Oldenburg und Delmenhorst. Einem Stationsapotheker wäre sein Treiben mit Sicherheit aufgefallen. Während die Apothekerschaft den Vorstoß aus Niedersachsen begrüßt, sind die Krankenhäuser, allen voran die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG), gar nicht begeistert.32 Die Regelung sei „verfassungsrechtlich sehr bedenklich“. Es wäre erstaunlich, wenn verbesserte Patientensicherheit verfassungsrechtlich bedenklich wäre. In einem Kritikpunkt hat die DKG allerdings recht. Es ist fraglich, ob man so schnell so viele qualifizierte Apotheker einstellen kann, denn das Pharmaziestudium ist in Deutschland hoffnungslos veraltet. Einen Großteil der Zeit beschäftigen sich die Pharmaziestudenten mit chemischer Analyse und Synthese sowie Pflanzenbiologie; etwas, was sie im späteren beruflichen Alltag so gut wie überhaupt nicht brauchen werden.
Gut ausgebildete klinische Pharmazeuten kosten nicht nur Geld, sie sind auch fähig, die Symptome einer polypharmazeutischen Verordnungskaskade von denen einer neuen Erkrankung abzugrenzen. Damit entgingen dem Krankenhaus aber Mittel, denn nach dem Finanzierungsprinzip der Krankenhäuser (siehe Kapitel 6 „Falsche Anreize“) bringt jede neue Diagnose neues Geld von den Krankenkassen. Das würde nun entfallen und es würde bei Arzneimittelnebenwirkungen oder Wechselwirkungen einfach das verursachende Medikament abgesetzt oder ausgetauscht, worauf die Symptome der Neben- oder Wechselwirkung (und damit die umsatzbringende Diagnose) verschwänden. Damit würden Klinikapotheker den von der DKG getriggerten Diagnosen- und Vergütungsturbo empfindlich ausbremsen. Lediglich der Patient würde profitieren.
Der Bundeseinheitliche Medikationsplan (BMP)33 wurde 2016 eingeführt und sollte für den ambulanten Bereich Abhilfe schaffen. Demnach hat jeder Patient, der drei oder mehr Arzneimittel verordnet bekommt, das Recht auf einen Medikationsplan. Doch dieser weist erhebliche Schwächen auf. Patientenbefragungen haben gezeigt, dass viele Patienten die Abkürzungen missverstehen. So wird „Mo“, das im BMP eigentlich für „morgens“ steht, mit „Montag“ verwechselt, „Mi“ mit „Mittwoch“ statt mit „mittags“. Auch die Bezeichnung „zN“ (zur Nacht) wird häufig nicht verstanden. 50 Prozent der Patienten hatten Verständnisschwierigkeiten und 18 Prozent verstanden den Plan auch nach Erklärung durch den Arzt nicht. Hinzu kommt, dass der Medikationsplan für Informationen zur Anwendung nur sehr wenig Platz vorsieht. Zudem wurde, was das Management des Medikationsplans betrifft, eine nicht zu begreifende Fehlentscheidung getroffen. Während die Hausapotheke der ideale Anlaufpunkt für einen solchen Medikationsplan gewesen wäre, da hier auch die Informationen zu den rezeptfrei vom Patienten gekauften Arzneimittel zusammenlaufen, wurde diese Aufgabe den Ärzten übertragen. Hat ein Patient einen Hausarzt und mehrere Fachärzte, geht die Verwirrung los und die Selbstmedikation hängt allein vom Gedächtnis des Patienten ab. Bislang sind Medikationspläne aber alles andere als verbreitet. Nur 23 Prozent der Patienten haben überhaupt einen Medikationsplan und von diesen sind nur 60 Prozent von Ärzten ausgestellt. Die restlichen haben sich die Patienten und Angehörigen selbst gefertigt. Entsprechend unterschiedlich sehen die Pläne aus. Mitunter sind Medikamente doppelt vermerkt – und werden offenbar doppelt eingenommen. Andere Medikamente, die nicht zusammen eingenommen werden sollten, sind zur gleichzeitigen Einnahme aufgeführt. Häufig sind die Einnahmezeiten und auch der Einnahmemodus (vor der Mahlzeit/nach der Mahlzeit) nicht berücksichtigt. Der geplante E-Medikationsplan könnte hier vielleicht die Lösung sein, da er von allen Beteiligten – Arzt, Apotheker und Patient – gleichermaßen einsehbar sein wird.
Bei so vielen Problemen mit Polypharmazie und Extrakosten im stationären und ambulanten Bereich wundert man sich, warum sich die Krankenkassen nicht gegen diesen kostentreibenden Turbo wehren. Offenbar, weil viele Kassen selbst von ihm profitieren. Wir wissen das seit Herbst 2016, als dem Chef der Techniker Krankenkasse, Dr. Jens Baas, der Kragen platzte und er andere Kassen (gemeint – aber nicht explizit genannt – waren vermutlich die AOKs, die zu den einflussreichsten Playern im Gesundheitslobbyismus gehören) beschuldigte, sie hätten in den vergangenen Jahren bis zu eine Milliarde Euro in „Drückerkolonnen“ investiert, um Ärzte zu mehr und schwereren Diagnosen anzustiften. Das würde diesen Kassen ermöglichen, mehr Geld aus dem Risikostrukturausgleich abzugreifen.34 Einige Kassen, nicht jedoch alle, dementierten diese Beschuldigungen. Wie glaubwürdig diese Dementis sind, lässt sich an der Bereitschaft der Krankenkassen ablesen, Medikationsanalysen durch öffentliche Apotheken, die Verordnungskaskaden detektieren könnten, zu honorieren. Bislang Fehlanzeige.
Doch Polypharmazie, mehr Nebenwirkungen und dadurch bedingt gelegentliche Krankenhauseinweisungen sind letztlich die geringsten Probleme, die mit „chronisch krank“ assoziiert sind. Chronisch krank zu sein macht einsam, kostet Lebensqualität