Nesthäkchen und ihre Enkel. Else Ury

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Nesthäkchen und ihre Enkel - Else Ury Nesthäkchen

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verlassen aus. War es denkbar, daß in diesen fensterlosen, elenden Lehmhütten Menschen hausten?

      »Zu welche Fazenda ihr gehören?« erkundigte sie sich. Das Kind nannte einen Namen. Er war angesehen in Sao Paulo, der Name Orlando. Die Familie lebte dort in Reichtum und Luxus. Zum erstenmal taten sich hier dem jungen Mädchen die krassen sozialen Gegensätze auf.

      Vor einer der Hütten sielten sich nackte braune Mulattenkinder im Staub. Irgendwo blaffte ein Hund. Sonst alles wie ausgestorben. Das ganze Dorf war auf den Plantagen bei der Arbeit.

      Mariettas kleine Führerin steuerte auf eine der Hütten zu. Der türenlose Eingang zu derselben war so niedrig, daß selbst das Kind beim Betreten der Hütte den Kopf neigen mußte. Palmenblätter bildeten das Dach. Statt einer Tür hing das Moskitonetz zum Schutz gegen die lästige Insektenplage vor der Öffnung.

      Unwillkürlich hemmte Marietta den Schritt. Nein, nein, sie konnte nicht diesen verwahrlost ausschauenden Raum betreten! Ihr ästhetisches Empfinden, ihr Kulturgefühl bäumte sich dagegen auf.

      »Schläfst du, Mutter?« hörte sie da das Kind drin sagen. »Wach auf, Mutter. Da ist ein feines Mädel, das redet wie wir. Sie hat gesagt, sie will dir helfen.«

      Darauf ein Stöhnen, dann eine matte Frauenstimme: »Uns kann keiner mehr helfen, Lottchen. Uns hat selbst der liebe Gott verlassen.«

      Der verzweifelte Ton dieser Worte ließ Marietta alles andere vergessen. Sie sah nicht mehr die elende Hütte, vor der sie noch soeben zurückgeschaudert. Hier war ein Mensch in Not. Hier mußte geholfen werden. Schon bückte sie sich, um in die Hütte zu gelangen.

      Der kleine Erdraum erhielt Luft und Licht nur durch die Türöffnung. Ein Tisch, ein Stuhl, eine Holztruhe. In der Ecke, aus ein paar Steinen errichtet, eine primitive Kochgelegenheit. Alles dies unterschied Marietta in dem dämmerigen Halbdunkel nach dem blendenden Sonnenlicht draußen erst nach und nach. Vorläufig hatte sie nur Augen für das kranke Weib, das da auf einem mit ein paar Lumpen bedeckten Blätterlager hingestreckt lag. Große, fiebrig glänzende Augen schauten erstaunt fragend auf die junge Besucherin.

      »Guten Tag, liebe Frau, Sie sein krank?« begann Marietta teilnehmend. Das Elend, das ihr hier unverhüllt entgegengrinste, legte sich ihr beklemmend auf die Brust. Sie vermochte kaum zu sprechen.

      Bei den deutschen Lauten, obgleich sie fremdländisch anklangen, war es wie ein Lächeln über das abgezehrte Gesicht der Kranken gezogen.

      »Sehr krank. Es geht zu Ende – ich fühl's. O Gott, der Durst, der entsetzliche Durst!« Ein Ächzen folgte.

      »Wo es geben Wasser hier?« wandte sich Marietta, ihre Erschütterung niederzwingend, an das Kind. Sie griff nach einem braunen Krug.

      »Dort – die Nachbarin hat uns heute morgen, ehe sie zur Arbeit ging, einen Eimer Wasser geholt. Aber das Wasser ist schlecht, man darf es nicht trinken. Es muß gekocht werden. Sonst wird man krank und muß sterben wie Vater«, setzte das Kind altklug hinzu.

      Schlechtes Wasser, das Seuchen erzeugte. Marietta hatte in Sao Paulo davon sprechen hören, daß auf verschiedenen Kaffeeplantagen unverantwortlicherweise ungesunde Wasserverhältnisse seien. Himmel, wie war es möglich, daß die Orlandos in größtem Luxus lebten, während ihren Arbeitern die notwendigste Lebensbedingung, gesundes Wasser, fehlte?

      »Wasser – nur einen Schluck Wasser! Ich verbrenne!« stöhnte die Fieberkranke.

      »Wir werden die Wasser kochen«, meinte Marietta kurz entschlossen. »Wo man kann kochen?«

      Das Kind wies auf die aufeinandergetürmten Steine: »Holz liegt draußen. Aber der Herd raucht, wenn wir Feuer machen. Dann muß Mutter wieder husten.«

      Ratlos stand Marietta da. Nur selten mal hatte sie in ihrem Elternhause die Küche betreten. Dort hauste die Dienerschaft, die schwarzen Köchinnen, die den ganzen Tag backten und brateten. Das war kein Aufenthalt für die jungen Fräulein.

      Hätte sie doch nur Diego mitgenommen. Nun mußte sie selbst sehen, fertig zu werden. Denn die Kranke bat unausgesetzt um Wasser.

      »Ich werden machen Holzfeuer.« Mit ihren zarten Händen griff Marietta nach einem großen Scheit Holz und wollte es in den Steinherd legen.

      »Man muß das Holz klein machen«, belehrte sie das Kind. »So hat Mutter es immer gemacht und auch die Nachbarin macht es so.«

      Marietta griff nach einem Messer. Sie schämte sich vor der Kleinen, daß sie, die soviel Ältere, das nicht wußte.

      Das Holz war zäh, das Messer stumpf. Ritsch – da war es statt in das Holz in Mariettas ungeschickte Finger gegangen. Rotes Blut tropfte hernieder.

      »Es nicht tun weh«, beruhigte sie das erschreckte Kind und machte mit ihrem Spitzentaschentuch einen Notverband. »Aber es sein besser, ich schicken euch unseren Diener. Und der Arzt muß kommen auch.«

      »Und auch was zu essen«, erinnerte sie das kleine Mädchen.

      »Zu essen, ja, Lotta. Meine Mutter wird schicken euch.« Es fiel Marietta plötzlich schwer auf die Seele, daß sie sich allein so weit entfernt hatte. Man würde sie suchen, sich um sie sorgen. Und hier hatte sie nicht einmal etwas nützen können. Unverantwortlich hatte sie gehandelt, ganz unüberlegt. Wäre es nicht viel richtiger gewesen, sie hätte von den Eltern Hilfe erbeten?

      Die armen Menschen hier litten Hunger und Durst, und sie vermochte denselben nicht zu stillen. Eine Wahrheit ging dem reichen, verwöhnten Mädchen hier in dieser Einsamkeit auf: Man mußte lernen, man mußte selbst Hand anlegen können, sich nicht nur von der Dienerschaft abhängig machen. Es konnte Lebenslagen geben, in denen man auf sich selbst angewiesen war. Wollte man anderen Hilfe bringen, mußte man vor allem sich selbst zu helfen wissen.

      »Fräulein, mich hungert« – erinnerte Lottchen die mit versonnenen Augen Dastehende.

      »Wasser – nur einen kleinen Schluck Wasser!« kam es seufzend von den Lippen der Frau.

      Marietta fuhr empor. »Ja, ja, ich gehen sofort. Ich senden Wasser, gute Wasser und Erfrischungen. Haben Sie einen Wunsch noch, liebe Frau?«

      Die Kranke öffnete bei der weichen, mitleidigen Stimme mit Gewalt die fieberschweren Augen.

      »Das Kind – das Kind«, flüsterte sie.

      »O ja, Lotta wird erhalten Essen, gutes Essen«, versprach Marietta bereitwillig.

      Die Kranke schüttelte den Kopf. Mühselig suchte sie die Worte. »Ich werd's nicht mehr lange machen – das Kind – was wird aus dem Kind – – –.« Dieser Gedanke schien sie in ihren Fieberträumen entsetzlich zu quälen.

      »Wenn der Arzt wird kommen, Sie werden ganz gesund, liebe Frau.« Tränenschwer klang Mariettas Stimme. Der Jammer der Verlassenen griff ihr ans Herz.

      »Ich will nicht mehr – ich kann nicht mehr – nur mein Kind – mein Lottchen – – –«

      »Meine Mutter wird sorgen für ihr.« Dieselbe Mutterliebe, die aus diesen verängstigten, mühsamen Worten der Schwerkranken sprach, empfand ja auch ihre Mutter. Die Mutterliebe war reich und arm gemeinsam, verband sie miteinander.

      Wieder schüttelte die Kranke das Haupt. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie zu sprechen vermochte. Der Atem ging keuchend, stoßweise: »Nicht hier bleiben

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