Nesthäkchen und ihre Enkel. Else Ury

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Nesthäkchen und ihre Enkel - Else Ury Nesthäkchen

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Sensenmann.

      »Bringe mir zurück zu meine Pferd, Lotta, daß ich kann schicken Hilfe«, wandte sie sich an das Kind. Noch einen Mitleidsblick zu der Ärmsten auf ihrem Blätterlager, dann stand Marietta wieder draußen in der glühenden Tropensonne.

      »Welchen Weg wir müssen gehen, Lotta?«

      Das Kind zuckte die Achsel.

      »Ich weiß nicht«, sagte es schließlich nach längerer Überlegung.

      Das junge Mädchen stand ratlos. Nach welcher Richtung sollte sie sich wenden? Die Lehmhütten, die einigen Anhalt boten, sahen alle eine wie die andere aus. Aber da waren ja die kleinen Negerkinder, die sich noch immer im Sande sielten, an denen waren sie vorhin vorübergekommen. Also mußte dieser Weg der richtige sein. Aber waren es auch dieselben Kinder? Die Negerkinder gleichen sich ja mit ihren schwarzwolligen Krausköpfchen wie ein Ei dem anderen. Auf gut Glück schlug Marietta den Weg an den spielenden Kindern vorüber ein. Wenn er sie nur heimbrachte, wenn er nur nicht in entgegengesetzte Richtung führte! Es war für einen Fremden gar nicht möglich, sich aus diesem Labyrinth der Kaffeeanpflanzungen mit seinen Kreuz- und Quergängen herauszufinden. Ein richtiger Irrgarten. Immer wieder stand man unschlüssig vor neuen Wegen. Dazu brannte die Sonne von Minute zu Minute glühender. Marietta, welche als mütterliches Erbteil die Tropentemperatur lange nicht so gut vertrug wie ihre Zwillingsschwester Anita, fühlte sich total erschöpft. Das Kind neben ihr weinte vor Hunger und konnte ihr absolut nichts nützen. Dazu empfand es Marietta als ein Unrecht, daß sie das Kind von dem Sterbelager der Mutter mitgenommen hatte. Aber allein hätte sie sich nie und nimmer in diese endlos grüne Wildnis hineingewagt. Noch nie in ihrem vierzehnjährigen Leben war sie einen Schritt außerhalb des Hauses allein gegangen.

      Kein Mensch ringsum. Keine Plantagenarbeiter, die man um den Weg fragen konnte. Das Singen, das sie auf dem Hinweg vernommen, war verstummt. Es fehlte nicht viel, dann hätte Marietta es wie ihre kleine Begleiterin gemacht – geweint. Nur mit aller Gewalt hielt sie die Tränen zurück.

      Sicher war sie länger, als der Hinweg betrug, gewandert. Es wurde ihr plötzlich zur furchtbaren Gewißheit, daß sie in entgegengesetzter Richtung ging. Aber auch dort mußte sie doch schließlich in bewohnte Gegenden kommen. Die Orlandos hatten, wie alle Plantagenbesitzer, ihr Sommerhaus auf ihrer Fazenda. Wenn sie wenigstens dorthin gelangte.

      Lottchen war vor Hunger, Müdigkeit und Hitze zu keiner Auskunft mehr imstande. Schwer ließ sie sich von Marietta weiterziehen. Aber auch diese verließen die Kräfte. Unter einem breitzweigigen Kaffeeboskett, das einigermaßen Schatten bot, ließ sie sich, unfähig zum Weitergehen, nieder. Wie lange sie so gesessen, wußte sie nicht. Das Kind hatte das Köpfchen an ihre Schulter gelegt und war vor Erschöpfung eingeschlafen. Alles still. Nur der heiße Tropenwind flüsterte mit den Blättern.

      Da ein Laut, ein heller, schreiartiger. Er schreckte Marietta aus ihrem Dämmerzustand auf.

      War es ein Vogel, der Jukano? Noch einmal – deutlicher – ein helles Gewieher war es – Pferde mußten in der Nähe sein. Marietta riß das schlummernde Kind empor. Sie ging dem Tone nach. Stimmen wurden laut – Rufe – deutlich, immer deutlicher zu unterscheiden – »Marietta – Marietta! – – –« Wie mit Engelszungen klang es an das Ohr des verirrten Mädchens.

      »Hier – hier – – –.« Sie hatte nicht mehr die Kraft zum lauten Gegenruf. Aber der war auch nicht mehr nötig. Diego, der alte, treue Neger, stand plötzlich vor ihr. Weinend sank ihm das erschöpfte Mädchen in den Arm.

      Diegos Freudenruf brachte alsbald die anderen zur Stelle. Vater und Mutter in größter Sorge und Aufregung. Anita fiel der Zwillingsschwester lachend und weinend um den Hals. Die Großmutter und Tante Margarida warteten im Auto auf der Landstraße, während die Dienerschaft die Plantagen rings in der Nähe des Gummibaumes, an dem Marietta das Pferd zurückgelassen, absuchten. Ein ganzes Ende davon entfernt, hatte Diego sie gefunden.

      Vorläufig vermochte Marietta auf keine der Fragen, mit denen vor allem Anita sie bestürmte, Antwort zu geben. Der Mutter bleiches Antlitz gewahrend, hatte sie nur hervorgebracht: »Meine Mammi, solche Sorge habe ich euch gemacht!« Dann hatte sie völlig erschöpft die Augen geschlossen. Aber als man ihr in der kühlen Wohnung, zu der sie das Auto brachte, Eiskompressen auf die brennenden Schläfen legte und sie mit Früchten und Limonade erquicken wollte, stieß sie plötzlich das Gereichte erschreckt von sich.

      »Das Kind – es hungert!« war das erste, was sie wieder sprach.

      »Das Kind hat bereits eine Mahlzeit bekommen. Es ist wieder ganz vergnügt. Aber wie geht's dir, mein Liebling? Durchsichtig blaß siehst du aus.« Frau Ursel streichelte zärtlich die bleichen Wangen der Wiedergefundenen.

      »Ach, das ist ja Nebensache. Aber Mammi, man muß zu der Fazenda der Orlandos, wo die schrecklichen Lehmhütten für die Arbeiter sind, gutes Wasser, Lebensmittel und vor allem den Arzt senden. Die Mutter des kleinen Mädchens liegt allein im Sterben – sie leidet entsetzliche Qualen durch Durst. Das Wasser dort ist verseucht – – –.« Ein Schauder überflog die junge Gestalt. Die traurigen Eindrücke, verbunden mit den ungewohnten Anstrengungen, waren zuviel für Mariettas zarten Organismus.

      Nicht umsonst nannten die Arbeiter der Tavaresschen Fazenda Donna Tavares ihre gute Fee. Umsichtig und tatkräftig veranlaßte sie sofort das Nötige, um der Schwerkranken Hilfe zuteil werden zu lassen. Sie kam zu spät. Der Arzt konnte nur noch den Tod feststellen. Die Ärmste war in ein besseres Land hinübergeschlummert.

      Marietta und Lottchen mußten von den übrigen Hausgenossen tagelang abgesperrt und unter ärztlicher Aufsicht bleiben. Denn die Sorge lag nahe, daß sie den bösen Krankheitskeim auch bereits in sich trügen. Das waren furchtbare Tage des Harrens, der sorgenschwersten Ungewißheit für Frau Ursel. Das Bitterste war für sie dabei, daß selbst sie nicht zu ihrem Kinde durfte. Sogar das Weihnachtsfest mußten die beiden Mädchen getrennt von den übrigen verleben. Trotzdem wurde es für Marietta der schönste Weihnachtsabend, den sie bisher gefeiert. Mit liebevollem Herzen war sie bemüht, der kleinen Waise die fehlende Mutter zu ersetzen, ihr Freude zu bereiten. Lottas Glück über all die schönen Gaben, die sie sich nach brasilianischer Sitte vom Baum pflücken mußte, war Mariettas reinste Weihnachtsfreude. Sie selbst hatte sich von den Eltern nur den Wunsch erbeten, daß Lotta im Hause bleiben dürfe und die Eltern für sie sorgen würden, bis die Verwandten in Deutschland ausfindig gemacht worden seien.

      Am weitgeöffneten Fenster stand die junge Marietta und schaute in den heißen Weihnachtsabend hinaus. In den Palmen spielte der Nachtwind. Blütenschwerer Duft umkoste ihre Stirn. Aus dem Erdgeschoß klangen süße Töne durch die Tropennacht. Die Mutter sang, wie alljährlich, das deutsche Weihnachtslied. Droben blitzte der Sternenhimmel. Da – dieser funkelnde, das war sicher der Weihnachtsstern.

      Ob der auch im fernen Deutschland strahlte?

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