Ein Zeitalter wird besichtig. Heinrich Mann
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Ein Zeitalter wird besichtig - Heinrich Mann страница 22
Wie kommt man dahin
Dieser Krieg ist ungeheuerlich – nicht erst durch den Zustand, den die Welt und das Leben nunmehr erreicht haben. Schon die Absicht, die ihn herbeiführte, wiederholt kein dagewesenes Beispiel. Gengis Khan fand keine Nationen abzuschaffen, Attila hat nicht Hunnen hingesetzt, wo Franken wohnten, noch die Überraschten »nach dem Osten« verfrachtet. Der reisende Bandit wird gesucht, der schon einmal hitlersche Bevölkerungspolitik verfolgt hätte.
Überall, wohin er mit seinen Soldaten kommt, läßt er sie von der fremden Nation genau so viele umbringen, daß sein berechnetes Verhältnis der Bevölkerungszahlen nicht gestört, werde. Sein imaginäres Herrenvolk muß das virtuell stärkste sein. Da es von der Ziffer, die eine Wolke in seinem dunstigen Kopf ist, in Wirklichkeit nur die größere Hälfte beträgt, müssen alle anderen Nationen, je nach ihrem Umfang, dezimiert oder halbiert werden. Was übrigbleibt, soll ohne Recht, ohne Staat, als unbewaffnetes Arbeitsvolk sein Dasein fristen. Dies ist der längst vorher ausgesprochene Vorsatz. (Was ihn nicht abhält, seinen Krieg »uns aufgezwungen« zu nennen.)
Weil an einem bestimmten Tage die deutschen Sturmwagen in der Überzahl waren – aber eines anderen Tages wären sie es nicht gewesen –, hört in seinem dunstigen Kopf eine Nation zu existieren auf. Seine eingebildeten deutschen hundert Millionen wären erst voll gemacht mit Hilfe geschändeter, sterbender Völker. Nicht vorgesehen war – da niemand so falsch rechnet wie der Ruchlose –, daß Hungersterben, Tuberkulose und die Lawine der Brandbomben nicht gerade Halt bei dem Herrenvolk machen. Es erfährt dieselbe Verkleinerung des menschlichen Bestandes, eher übertrifft sein Verlust die Schäden anderer.
Franzosen, Zwangsarbeiter in Deutschland, kehren krank in ihr Land zurück – ein hoher Prozentsatz, die Hospitäler sind voll Schwindsüchtiger. Wenn aber nicht einmal dringend benötigte Rüstungshandwerker ernährt, noch vor Kälte geschützt werden konnten, was dann mit dem Teil der Deutschen, der im Krieg entbehrlich und zur Last ist! Man weiß und belegt es durch Zeugnisse, daß sie abgeschafft werden.
Wäre eine menschliche Gemeinschaft dabei angelangt, der Vergasung kranker Kinder zuzusehen – oder davon wegzusehen –, dann geht nichts sie noch an, ihre verfallenen Fronten nicht, kaum das Geschick der Söhne draußen, und die Nation? Von ihr mag einer allein weiterreden. Er hat, er mit seinem schäbigen Gerüst und nichts darin, die Nation verkörpern wollen. Steil abschüssig bis hierher gelangt, stimmt jeder Deutsche zu: er ist die Nation.
Das bedeutet die Stufe von geistiger Auflösung, wo endlich die ehrlichste Wissenschaft irrational vorgeht und Lügen brütet. Sie wollen ein Trost sein. Die Sternwarte Berlin – voreinst war sie namhaft – hat den aufgelösten Deutschen zu melden gewußt, daß sie ein fatales Gestirn entdeckt habe. Dieser Neuling werde ehestens mit der Sonne zusammenstoßen, dann sei »ohnehin alles aus« und der (verlorene) Krieg keine Sorge mehr.
Wenn die Anekdote nicht wahr wäre, verdiente sie doch erfunden zu werden. Sie hält Schritt mit dem geistigen Niedergang, der zuerst kam, dann erst konnte dieser Krieg – und dieser Führer – sein. Der Vernunfthaß ist das Zeichen eines Zeitalters. Der Entschluß zum Irrationalen, weil es aller Pflichten entbindet, Deutschland hat ihn gefaßt, früher als andere. Wenn andere die Probe machten, ließ Deutschland sie weit hinter sich, es beschritt den Weg und ging bis an sein Ende: das wird nunmehr abgehandelt.
Deutschland steht zu Europa – und zu sich selbst – in einem irrationalen Verhältnis. Was es tut, ist falsch, die Voraussetzungen so widernatürlich wie die Folgen. Warum hängt eine deutsche Bestattungskolonne sich an das verunglückte Frankreich, das die sogenannten Sieger verachtet? Der Vorwand, Juni 1940 sei Frankreich erobert worden, ist hinfällig. Da kein deutsches Heer übrig ist, um Frankreich heute nochmals zu erobern, kann auch die vorige Eroberung nicht echt gewesen sein. Sie stehen nicht als Sieger in Frankreich. Eingeschlichene Blutsauger klammern sich an, ohne Recht, nicht einmal mit dem Recht des Stärkeren; dezimieren die Bevölkerung, beseitigen alle Wehrhaften. So hält man sich gegen Vernunft und Augenschein, – die zu quittieren pflegen.
Warum verwüsten die deutschen Zerstörungskommandos jede russische Stadt, die aufgegeben werden muß? Wo ist die Notwendigkeit. Es gibt keine. Jeder Soldat weiß nachgerade, daß sie das Land verlassen werden wie sie gekommen sind, nur sehr verringert an Mannschaft, Gesundheit, Hochgefühl. Was heute noch geschieht an greulichen Taten, fällt zurück auf die Verüber, – die es wissen. Die vernichteten Städte werden sie mit eigener Hand wiederaufbauen müssen, und nichts damit gutmachen. Gleichwohl: Vernichtung.
In Kiew, als sie räumten, erschossen sie 160 000 Menschen, und wie viele vorher? Die Stadt von einer Million Einwohner hat gegenwärtig vierzigtausend. Jemand, der beiwohnen konnte, berichtete, 60 000 zu erschießen habe drei Tage erfordert. Nach dieser harten Arbeit verzehrten die deutschen Soldaten das russische Brot.
Wie kommt man dahin? Wie werden Massenmörder aus Menschen, die zu kämpfen dachten? Jede vernünftige Erwägung spräche wenigstens jetzt dagegen. Natürlich hat sie von jeher gegen das ganze System gesprochen.
Dies alles war möglich geworden, seitdem die Vernunft in Verruf erklärt, das Denken strafbar ist. Die Massenmorde sind ohne Zweck, nicht einmal die überlebte Illusion, als korrigierte man das Verhältnis der Bevölkerungsziffern, könnte sie an diesem Punkt noch erklären. Gleichwohl sind es tote Glaubenssätze, die weiterhandeln, gegen das Wissen, gegen das Gefühl. Der deutsche Führer hat erklärt, Gefühle würden ihn niemals abhalten. Übrigens fühlt er nichts, außer für das Stückchen Ungemach, das er selbst ist. Gestehen, daß es an der Zeit ist, widerlegte Glaubenssätze abzulegen? Das erste Zugeständnis an die Vernunft wäre seine Abdankung.
»Alles andere ist eher möglich, als daß ich die Nerven verliere«, spricht das Geschöpf, und im Untergang begriffen und besessen von schrecklicher Todesfurcht bleibt es dabei zu töten. Nach dem Wegfall jeder Doktrin – sterben wird er wohl nicht aus Lehrhaftigkeit – mordet er von der Bevölkerung einer Stadt den ausgerechneten Prozentsatz, aber die Juden alle, bis auf drei, die von ihm melden sollen.
Dies ist der Führer, den die Deutschen, nicht ohne inneren Zusammenhang, bekommen und behalten haben. Sie schätzen Gründlichkeit als einen ihrer Vorzüge. Auch ein Gesicht der Gründlichkeit ist die Zähigkeit – im Falschen. Wäre es das Rechte, man könnte sich darauf verlassen. Die großen Lügen verlangen, daß eher der Geist aufgegeben als die Wahrheit gesagt wird.
Hitler – jedesmal schreibe ich mit Widerstreben den Namen eines Menschen, der es nicht wert ist – hält zu seinem Glaubenssatz, daß es zwei starke Rassen gebe, Deutsche und Juden: darum rotte er die eine aus. Die Völker der Sowjetunion hat er nicht schwächlich gefunden, so wenig wie das britische Reich. Die Sowjetunion, das sind zweihundert Millionen, zusammengehalten von dem ältesten Urinstinkt für ihr Land und von der lebendigsten Überzeugung einer Gemeinschaft (die gleichfalls bei ihnen das älteste ist).
Das britische Reich, das ist ein Viertel der Erde, und ist kein Reich, wie diese Deutschen es verstehen würden. Es ist eine freiwillige Vereinigung vieler zum Gemeinwohl. Die weit getrennten Länder, die Dominions heißen, wären, jedes vereinzelt, weniger wohlhabend und gesittet, vor allem wären sie hilflos. Sie werden von Großbritannien nicht »kontrolliert«, aber beschützt und zur Macht erhoben. Alle anerkennen sie dasselbe Mutterland – eine Insel mit dreiundvierzig Millionen, und sie sind ein Viertel der Erde.
Das war nie, hätte niemals sein können, ohne das mehr als politische, das menschheitliche Genie Englands. Die vorige Reichskonferenz wurde präsidiert nicht vom britischen Minister: vom General Smuts, Südafrika. Ihn hat Churchill, im Fall seiner eigenen Verhinderung, beauftragt, ihn vor dem Parlament zu vertreten. Vor dem Haus, auf das die Welt blickt, steht kein Brite, kein Angehöriger des Herrenvolkes, denn