Ein Zeitalter wird besichtig. Heinrich Mann
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Napoleon war vom ersten Tag an französischer Offizier und nie etwas anderes, kein fauler Handwerker oder unwissender Hetzredner. Er mußte seine Heimat Korsika nicht besetzen, sie gehörte freiwillig zu Frankreich, – Frankreich war anziehend schon vor Napoleon. Deutschland ist es am wenigsten durch seinen Hitler geworden.
Besonders fand Napoleon eine Revolution vor, seine Laufbahn vollzog sich nach ihrem Gesetz, in ihrem Zeitmaß. In den achtziger Jahren ein Unterleutnant, der einen Roman schrieb; um 1800 auf Schlachtfeldern herangewachsen zu dem Ersten seiner Zeitgenossenschaft. Man kann es normal nennen. Es geht hervor aus dem damals verbreitetsten Lebensgefühl, – das heute nirgends begriffen werden kann, mit der einzigen Ausnahme der Sowjetunion.
Der arme Wilhelm II., in seinem Bedürfnis zu reden und sich jede Blöße zu geben, hat nicht unterlassen, ihn den korsischen Parvenu zu nennen. Da liegt es gerade. Er selbst war der Emporkömmling, seinem Auftrag, vornehm ein gesichertes Reich zu leiten, hat er nie genügt. Inmitten der liberalen Jahrzehnte brachte er halb faschistische Gesetze ein, der erregten Öffentlichkeit opferte er sie alsbald. Fuhr übereifrig einem fremden Milliardär bis an den Hafen entgegen, aber mit seinem Onkel von England trieb er Scherze, die teuer zu stehen kamen. Übrigens hat er Napoleon nachgeahmt, – in der Herrschergeste, da ihm sonst nichts freistand.
Die schaubare Haltung, das Inbetriebsein, die Ubiquität, das Vornean-Agieren um jeden Preis, auch auf die Gefahr von Kriegen, die man durchaus nicht zu wagen gedenkt: dies alles bedeutet das Hinschwinden der Legitimität. Die ehemals Europa regierende Familie – da die souveränen Häuser verwandt waren – sah gewöhnlich noch auf Würde. Bei allen Treulosigkeiten wahrte doch jeder den gemeinsamen Anstand, das hieß aber: die Mächte blieben mehr oder weniger die gleichen, und über den Kriegen der Nationen erhielt sich ein Frieden der Souveräne.
Der Kaiser eines neuen Reiches fiel aus der Reihe der Legitimen. Zu schweigen von der »Kunst des Möglichen«, wie Bismarck die Politik genannt hatte, – dafür bedarf es eines Künstlers; aber Wilhelm II. machte auch nicht die Politik seines Hauses. Sie wäre vereinbar gewesen mit der Politik der anderen regierenden Häuser. Unvereinbar mit allem Bestehenden waren die Gier und der Neid der kürzlich in Deutschland heraufgekommenen Mächte. Wilhelm, der nur das Geld achtete, verband sich ihnen.
Der Neid allein bestimmte Deutschland, will sagen seine neue herrschende Schicht, im südafrikanischen Kriege gegen England Partei zu nehmen. Wilhelm, mit den illegitimen Gefühlen des Emporkömmlings, der noch immer benachteiligt sein will, gab sich geräuschvoll als der Beschützer der Buren, aber nun ihr Präsident nach Berlin kam, empfing er ihn nicht. Provozieren, zurückzucken, Spielerei mit tödlichen Feindschaften und Furcht vor ihnen. Da er sich und seine Gesten nicht ernst nahm, verlangte er von anderen dasselbe. Bis an den Rand des Krieges und darüber hinaus erwartete er von Großbritannien, daß es sich enthalte.
Noch naiver hat Hitler an die britische Friedfertigkeit geglaubt. Er rechnete nicht nur auf den Betrug, einen dauernd unbeanstandeten Betrug, – indessen schon der unfähige Chamberlain gesagt hatte: »Man versucht es mit ihm noch einmal, auch wenn man nicht mehr glaubt.« Hitler muß überdies in dem merkwürdigen Traum dahingelebt haben, das europäische Gleichgewicht, seit zweihundert Jahren die Sorge Britanniens und Bedingung seiner Existenz, habe plötzlich aufgehört die Briten zu interessieren. (Das Gleichgewicht ist seit 1943 wirklich aufgegeben, um das besiegte Deutschland dauernd machtlos zu erhalten.)
Nicht genug, daß dieser Hitler aus seinen Träumen das britische Vorurteil versehentlich wegließ. Wahrscheinlich ist, daß er von dem europäischen Gleichgewicht niemals gehört hatte. Alle folgenden Zeugnisse seiner Unwissenheit sprechen dafür. Siehe seine einfach blödsinnige Meinung über den Zustand der Sowjetunion, derentwegen er sie angriff. Siehe seinen frevelhaften, aber auch hirnverbrannten Vorsatz, die europäischen Nationen aufzuheben.
Sie sind die ganze Lebenskraft Europas, alles, was den Erdteil des Bestehens wert macht. Wer verfällt darauf, sie abzuschaffen? Napoleon nicht, er hat nicht gerührt an die Nationen. Sein entferntester, unberufenster Nachahmer unternimmt den mörderischen, vergeblichen Unfug. Noch angesichts seines eigenen Zusammenbruches betreibt er das Ende aller.
Ich mag es kaum hinschreiben, so selbstverständlich ist es, daß der Politiker Hitler dieselbe Stufe hält wie der Stratege Hitler: die unterste, eher gar keine mehr, sondern den nachgiebigen Boden des frechsten Dilettantismus. Das soll eine Idee sein: niemand will den Krieg, daher kann ich ihn machen? Als sie mußten, haben sie ihn allerdings gewollt. Die einzige Idee des Politikers führte ihn nach Stalingrad und geleitet den Strategen treulich – bis zurück in das zertrümmerte Deutschland.
Das Problem ist nicht dieser Pinsel, auf Zimmerwänden wird er sich auch nur talentlos betätigt haben. Die schwere Frage betrifft Deutschland – und dies Zeitalter. Deutschland, das sich einem durchaus niedrigen Individuum in die Hände gab. Die gesamte Mitwelt der Mächte und Völker, die es ihm erlauben mußte. Das eine wie das andere geschieht, wenn man es verstehen will, folgerichtig. Das Schicksal werde nicht bemüht. Was wirklich ist, ist berechenbar.
Napoleon
Bis zu diesen Kriegen machte auf die Deutschen den nachhaltigsten Eindruck das Ereignis, das genau hundert Jahre hinter ihnen lag. 1914 – die Marne, 1815 – Waterloo. Das erste der Beginn der Niederlage; das zweite die letzte von Entscheidungen, die meistens im Innern Deutschlands ausgemacht worden waren. Schwere Niederlagen und eine lange Fremdherrschaft mußten hingenommen werden, bis Deutschland einen Freiheitskrieg haben konnte – auch dann nicht aus eigener Kraft allein. Bei Leipzig 1813 waren die Armeen der Militärstaaten gegen Napoleon aufgeboten. Ohne die russische wäre nicht über ihn gesiegt worden.
Der Freiheitskrieg der Deutschen hat sich bei ihnen, in ihnen, für ihr Gemüt und ihre Geschichte nachhaltig ausgewirkt: Seine Folgen halten bis zur Stunde an. Weder der dreißigjährige des 17. Jahrhunderts noch die zwanzigjährigen Kriege Friedrichs des Großen hinterließen vergleichbare Spuren.
Es blieb, beiläufig achtzig Jahre, der Respekt vor Rußland. Es wurde übernommen der Begriff Napoleon, als die sieghafte Macht schlechthin. Besiegt, gestürzt, wuchs er insgeheim und beständig, nistete sich ungenannt, kaum mehr bewußt, in Deutschland dennoch ein – bis zur Nachahmung, bis den Deutschen ihn zu wiederholen möglich schien. Ungeheuerlicherweise schien es ihnen auch erlaubt. Sie hatten inzwischen vergessen, moralische Werte mitzuzählen. Sie kannten nur technische, damit kann man siegen, aber nicht für lange. Man kann, eine bemessene Weile, Herr über geraubten Raum sein, niemals über seinen Bewohner.
Die Völker fallen dem sittlich befugten Eroberer zu, solange seine Legende stark ist. Enttäuscht sie, schüttelt man ihn ab. Napoleon kam über Europa als Exekutor einer tief menschenfreundlichen Revolution. Hitler hat es befallen als eine Seuche. Die Freiheit zog unter den Fahnen des Kaisers in die besiegten Länder ein. Er befahl ihnen keinen inneren Umsturz, so wenig er die größeren der staatlichen Gefüge zerstörte. Die Regierungen selbst begannen Reformen – unzulängliche, wenn es nicht bei Versprechungen blieb. Aber die Gegenwart des Befreiers klärte die Völker über ihre Knechtschaft auf, bedenklich wurden sogar die Inhaber der Vorrechte.
Die Sache ist, daß erst die körperliche Anwesenheit der Französischen Revolution in Gestalt der kaiserlichen Heere und ihres großen Mannes auch den Deutschen ihre überholte Lage zum Ekel machte. Ihr Abstand von Frankreich beschämte jede Nation. Vorher war die Revolution wechselvoll und spannend gewesen: da erregte sie draußen viele geistige Hoffnung – die Teilnahme der Massen kaum. Als die Revolution um Frankreich kämpfte, hatte sie alle Zustände durchlaufen von ihrem hochsinnigen Aufgang bis zur tragischen Dämmerung, der nichts mehr gefolgt wäre als bittere Nacht. Napoleon allein setzt sie fort. Wenn er mit seiner einzigen Person die ganze große Revolution