Das Elend der Medien. Michael Meyen
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In einer der Pausen stellte Jörn Hurtienne fest, dass ich seine Bourdieu-Begeisterung teile. Wir hatten schon in einem Forschungsverbund zum Thema Resilienz zusammengearbeitet und jetzt den Wunsch, die Kooperation zu vertiefen. Die Idee lag nahe: ein Buch mit dem Titel Das Elend der Demokratie, angelehnt an den Bestseller Das Elend der Welt.1 Auch über den Inhalt waren wir uns schnell einig: O-Töne wie beim ›Wall Walk‹, etwas länger sicherlich und so eingebettet, dass soziale Position und Habitus deutlich werden. Der Forschungsverbund ›Zukunft der Demokratie‹ schien dafür das ideale Umfeld zu sein. Die elf Projekte haben ihre Sensoren (fast) überall: beim Geld und am Arbeitsplatz, auf dem Land und in Osteuropa, bei den Geschlechtern, bei Menschen, die einen Teil ihrer Wurzeln in der Türkei haben, und bei denen, die noch nicht sehr lange in Deutschland sind. Das Elend der Demokratie könnte, so haben Jörn Hurtienne und ich das in Würzburg gesehen, wie einst Pierre Bourdieu eine Gesellschaftsdiagnose liefern und damit etwas einlösen, was unser Forschungsverbund beim Start im Sommer 2018 versprochen hatte.
In der Ausschreibung für den Verbund hatte ich ein paar Namen genannt (Trump, Orbán, Kaczyński, Erdoğan) und auf das hingewiesen, was 2017 diskutiert wurde. Populismus und die AfD, Wutbürger auf der Straße und in den sozialen Netzwerken, dazu »der Mitgliederschwund von Parteien, Gewerkschaften, Verbänden oder Kirchen – von Organisationen, die in der Vergangenheit Normen und Werte bereitgestellt oder diskutiert und so die öffentliche Meinungs- und Willensbildung genau wie das Handeln von Individuen, Gemeinschaften und Gesellschaften entscheidend beeinflusst haben.« In meinem Text wurde daraus eine düstere Prognose: »Die Demokratie und ihre Prinzipien wie die politische Gleichheit aller, Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung, Minderheitenschutz und Partizipation scheinen ausgerechnet in einer Zeit an Strahlkraft zu verlieren, in der die Menschheit vor existentiellen Herausforderungen steht. Anders formuliert: Es steht das Vertrauen in die politische Weisheit der ›Vielen‹ auf dem Spiel.«2
Um diese Drohkulisse zu legitimieren und den potenziellen Geldgeber (das bayerische Wissenschaftsministerium) zu motivieren, habe ich einerseits all das zusammengetragen, was sich in der wissenschaftlichen Literatur an Skepsis finden ließ: »Postdemokratie«,3 »defekte Demokratie«,4 Fassadendemokratie,5 »simulative Demokratie«,6 »democratic rollback«,7 »Pathologie der Demokratie«.8 Andererseits sollten diese Krisen-Szenarien nur ein Ausgangspunkt sein, um danach fragen zu dürfen, »wie Partizipations- und Entscheidungsverfahren sowie möglicherweise auch die Vorstellung von Demokratie an sich so modifiziert werden können, dass sie in der Lage sind, angemessen auf die Probleme des 21. Jahrhunderts zu reagieren«.9
Heute weiß ich: Das war in jeder Hinsicht zu optimistisch gedacht. Auch und vielleicht sogar besonders in der Wissenschaft sind längst nicht alle darauf aus, ›die Vielen‹ da draußen tatsächlich mitreden und mitmachen zu lassen – auch dann nicht, wenn sie sich für einen Forschungsverbund bewerben, der ausdrücklich jede Verordnung »von oben« ablehnt und in der Ausschreibung betont, »dass die Bürgerinnen und Bürger an der ›Herstellung legitimer, gerechter, kreativer und dauerhafter Problemlösungen für ein nachhaltiges Leben‹ aktiv mitwirken müssen.«10 Ein Gemeinschaftsprojekt zum ›Elend der Demokratie‹ war selbst in einer solchen Konstellation nicht möglich. Allein schon der Titel. Unmöglich. Als ob die Demokratie am Ende wäre. Dagegen kam auch der Hinweis auf das Vorbild nicht an.11
Natürlich: Beim Cover sind immer Kompromisse möglich. Wir hätten das Buch auch einfach ›Verstehen der Demokratie‹ nennen können, Wissenschaftstradition und intellektuelles Erbe hin oder her. Damit allein wäre es aber nicht getan gewesen. Alexis Mirbach und ich sind im Frühsommer 2020 wegen eines Blogbeitrags in die Schlagzeilen geraten, in dem Ken Jebsen und sein Portal KenFM neutral-positiv behandelt wurden.12 Mir fällt kein besseres Adjektiv ein. Erwartet wurden offenbar Nicht-Beachtung oder Distanzierung. Dass das nicht geht, wenn man nach dem ›Elend der Medien‹ fragt und nach der Zukunft des Journalismus, wird hoffentlich in diesem Buch deutlich. Fortan hatten wir beide ein Kontaktschuld-Problem.13 Einige wollten ihren Namen nicht neben uns auf einem Buchdeckel sehen, und andere fürchteten, dass wir nicht in der Lage sein würden, »bestimmte Linien zu ziehen« (Zitat aus einer entsprechenden Mail). Im Klartext: Wir könnten Menschen sprechen lassen, die – ja, was eigentlich?
Eine Angst geht um in der Wissenschaft, die sich schwer greifen lässt und einen eigenen Forschungsverbund verdienen würde oder wenigstens ein eigenes Buch. Diese Angst beschneidet eigentlich alles (das Themenspektrum, die Fragen, die Antworten) und greift schon nach der jüngsten Forschergeneration. Ich könnte von einer Bachelorstudentin erzählen, die zögerte, sich mit einem politisch ›heiklen‹ Thema zu beschäftigen, um ihre Karriere nicht zu gefährden, oder von einer Aktivistin, die darum gebeten hat, längst gedruckte Zitate aus der Google-Vorschau zu entfernen, weil sie sich jetzt um ein Stipendium bewerben wollte. Bei den fraglichen Stellen sah nicht etwa diese Frau schlecht aus, sondern der Staat (weil man sie grundlos ein halbes Jahr heimlich überwacht hatte), aber genau das war offenbar das Problem. Aus der »Angst des Forschers vor dem Feld«14 (was passiert, wenn ich mich auf Menschen und ihre Wirklichkeit einlasse) ist eine Angst vor sozialer Ächtung geworden, die sehr viel mit dem ›Elend der Medien‹ zu tun hat. Deshalb bin ich Jörn Hurtienne genauso dankbar wie Herbert von Halem – dem einen für den Impuls, der zu diesem Buch geführt hat, und dem anderen für die Offenheit, diesen Titel trotz aller Bedenken, die jeder nach diesem Vorwort selbst ausformulieren kann, in sein Programm aufzunehmen. 40 Stimmen zum ›Elend der Medien‹ (genauso viele hat einst das Team um Bourdieu gesammelt) sind auch 40 Stimmen zum ›Elend der Demokratie‹.
1Pierre Bourdieu et al.: Das Elend der Welt. Studienausgabe. Konstanz: UVK 1997. – Vgl. hierzu auch die Einleitung von Alexis Mirbach in diesem Buch.
2Michael Meyen, Sabine Toussaint: ForDemo: Die Zukunft der Demokratie. Skizze für einen Bayerischen Forschungsverbund. München, 2. Januar 2017
3Vgl. Colin Crouch: Post-Democracy. Oxford: Polity 2004, Sheldon Wolin: Democracy Incorporated. Princeton: Princeton University Press 2008
4Vgl.