Das Elend der Medien. Michael Meyen
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Ist damit wieder alles gut in Deutschland? Hat sich das Elend der Medien erledigt? Nicht ganz. Folgt man der Mainzer Langzeitstudie, dann hat sich der Anteil der Unentschiedenen seit 2008 von 63 Prozent auf 29 Prozent halbiert.61 Das heißt: Immer mehr Menschen haben zum Thema Medienvertrauen eine klare Meinung. Die Forschergruppe ruft deshalb das Zeitalter der Polarisierung aus.62 Ein Befund, der Sozialwissenschaftlern, Meinungsforschern, Journalisten und Politikern gut in die Argumentation gespaltene Gesellschaft passt.63
An dieser Stelle kann es weniger um die methodischen Unstimmigkeiten hinter solchen Befunden gehen und auch nicht um die These, dass Umfragen zum Medienvertrauen allenfalls die Zufriedenheit mit dem gesellschaftlichen System messen und ansonsten vor allem denen helfen, die sie bezahlen. Es soll lediglich erwähnt sein, dass der Fokus auf Glaubwürdigkeit andere Kriterien zur Beurteilung journalistischer Qualität wie Relevanz, Transparenz, Vielfalt oder die Diskussion um den Objektivitätsbegriff verdrängt.64 Und: Durch die Vielzahl an Befragungen kann sich der forschende Interpret mittlerweile selbst aussuchen, ob er steigendes,65 sinkendes66 oder stabiles67 Medienvertrauen in Deutschland erkennen mag.
Wichtiger ist an dieser Stelle, wie die Studien interpretiert werden. Punkt eins, das sei hier wiederholt: Hohe Glaubwürdigkeitswerte gelten als gut für die Demokratie. Punkt zwei: Eine Zunahme an Ja- oder Nein-Antworten (und nicht: »weiß nicht«) steht für eine Polarisierung der Gesellschaft. Und Punkt drei: Auch in der moralischen Bewertung ist man sich einig. Es gibt »gerechtfertigte« und »konspirative« Medienkritik.68 Gerechtfertigte Medienkritik äußern »Medienskeptiker« – Menschen, die sich »intellektuell zurückhaltend« und »rational begründet« äußern. Gute Bürger. Medienzyniker69 dagegen unterstellen Politikern niedere Motive und sprechen von »Lügenpresse«. Diese »verächtlichabwertende« und destruktive Haltung habe, so kann man das in einem der Texte aus Mainz lesen, keine rational-wissenschaftliche Basis. Das Forscherteam weiß auch, wo (sozial und politisch gesehen) solche Medienzyniker zu finden sind: »höhere Präferenz für die politischen Ränder AfD und Linke; niedriges politisches Interesse; hohe wirtschaftliche Zukunftsangst; häufige Nutzung alternativer Online-Nachrichtenseiten; häufiges Lesen von Nutzer-Kommentaren sowie niedrigere formale Bildung.«70 Der Frame: Formal gebildete Personen sind gut und Ungebildete böse.71
Der herrschende Desinformations-Frame lässt sich folglich so zusammenfassen: Böse sind das Internet, autoritäre Kräfte, nichtjournalistische Kommunikatoren, Alternativmedien und Medienzyniker. In anderen Worten: Schuld an der Krise der Demokratie sind Wutbürger, die Putins Medien glauben. Diesen Befund dürfte eigentlich auch der Bundespräsident nicht gutheißen. Als Außenminister sagte Steinmeier 2014 zur ›Glaubwürdigkeitskrise‹ der Medien:
»Die einfachste Erklärung wäre: Der Leser ist schuld, der ist halt dumm und frech. Der kapiert nicht, wie gut die Zeitungen sind. Aber mit dem Leser ist es wie mit dem Wähler. Man kann sich über ihn ärgern, aber man sollte ihn nicht ignorieren und am besten sehr ernst nehmen.«72
Wenn in der psychologisch-quantitativ orientierten Kommunikationswissenschaft73 nach den Ursachen der Medienkrise geforscht wird, geht es zum Beispiel um die Frage, ob Zukunftsangst stärker als die wirtschaftliche Lage bestimmt, wer Medienzyniker wird und wer ›Medienfan‹ (Antwort: nicht ganz klar), oder darum, wo Verschwörungstheoretiker Gleichgesinnte finden. Antwort: im Internet.74 Nur in einem Nebensatz heißt es bei den führenden Medienvertrauensforschern Deutschlands, die den Forschungsstand bestens im Blick haben: »Bisher ist vergleichsweise wenig untersucht worden, was Menschen konkret an Medien kritisieren.«75 Damit ist zur Relevanz dieses Buches alles gesagt.
Verstehen mit Bourdieu
Die Mainzer Langzeitstudie Medienvertrauen steht hier ›nur‹ pars pro toto für das, was Pierre Bourdieu an der Markt- und Meinungsforschung insgesamt kritisiert hat.76 Bourdieu hat eine Wissenschaft abgelehnt, die Menschen erst über sozial zugeschriebene Kompetenzen und statistische Wahrscheinlichkeiten definiert, anschließend den Tatbestand der ungleichen Verteilung feiert oder beklagt und schließlich die Merkmalsträger anklagend beschreibt. Eine solche Wissenschaft laufe Gefahr, zum blinden Instrument einer rationalisierten Form von Demagogie zu werden.77 Die ist beim Desinformations-Frame gegeben, weil dort die Gründe für die Medien- und Demokratiekrise nicht bei Politikern, Journalisten oder Kommunikationswissenschaftlern verortet werden, sondern bei autoritären Kräften im Internet und bei unwissenden Bürgern. Der Desinformations-Frame gleicht so dem, was der Politikwissenschaftler Philip Manow »Demokratiegefährdungsdiskurs« nennt – ein Diskurs, der »zuletzt so zugenommen« habe und die Demokratie selbst gefährde, weil er kaschiere, dass der Populismus nicht Ursache, sondern Folge der Krise der Demokratie ist.78
Dass Menschen, die nicht über das Machtmittel Bildung verfügen, weniger zufrieden mit den symbolischen Machtmitteln sind (zu denen die Massenmedien zählen), ist nicht nur das regelmäßig wiederkehrende Ergebnis der Meinungsforschung,79 sondern auch ein fast schon selbsterklärender Befund. Doch die Evidenz, »die in die Augen sprang«, war für Bourdieu nur der Ausgangspunkt. Eine Sozialwissenschaft, die unter die Oberfläche offenkundiger Tatbestände gehen wolle, müsse die primäre Wahrheit zertrümmern und an die »wirklichen Ursachen des Leidens« gelangen80 – an die sozialen und ökonomischen Bedingungen des Feldes und an die persönlichen Beschränkungen der Befragten. An ihre legitimen Ansprüche auf Glück, an die Zwänge des Arbeitsmarktes, an offene Sanktionen, schulische Verdikte oder Klassifikationen.
Aus dieser Forderung leitet Bourdieu die verstehende