Das Elend der Medien. Michael Meyen
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5Vgl. Wolfgang Streeck: Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2013
6Vgl. Ingolfur Blühdorn: Simulative Demokratie. Berlin: Suhrkamp 2013
7Vgl. Larry Diamond: The Democratic Rollback. The Resurgence of the Predatory State. In: Foreign Affairs 2/2008, S. 36-48
8Martin Sebaldt: Pathologie der Demokratie. Wiesbaden: Springer VS 2015
9Meyen, Toussaint: ForDemo
10Ebd. – Vgl. Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU): Welt im Wandel. Gesellschaftsvertrag für eine große Transformation. Berlin 2011, S. 55
11Vgl. zur Übersetzung von Bourdieus Titel die Einleitung von Alexis Mirbach in diesem Buch.
12Vgl. Michael Meyen: Kontroverse um »Medienrealität«. In: Medienrealität vom 2. Juni 2020
13Vgl. Michael Meyen: »Damit ist jedes Ihrer Argumente wertlos«. Interview zum Thema Kontaktschuld (Interviewer: Jakob Buhre). In: Planet Interview vom 14. Juli 2020
14Vgl. Rolf Lindner: Die Angst des Forschers vor dem Feld. Überlegungen zur teilnehmenden Beobachtung als Interaktionsprozess. In: Zeitschrift für Volkskunde 77. Jg. (1981), S. 51-66
1.JENSEITS VON GUT UND BÖSE.
WARUM DAS ELEND DER MEDIEN VIELE GESICHTER HAT
Alexis Mirbach
Dieses Buch könnte auch ›Die Leiden der Medien‹ heißen – wenn der Leitbegriff unseres Referenzwerks La misère du monde anders übersetzt worden wäre. Als Unbehagen. Als Not. Als Misere. Oder eben als Leid.1 La misère du monde ist ein soziologisch-literarischer Klassiker, der in Frankreich 1993 unter der Leitung von Pierre Bourdieu erschien und hierzulande 1997 als Das Elend der Welt. Deshalb der erste Teil unseres Buchtitels.
Ausgangspunkt für La misère du monde war die Anfrage eines Finanzinstituts an Bourdieu (damals Lehrstuhlinhaber am Collège de France und lange meistzitierter Sozialwissenschaftler der Welt), die »malaise social« zu erforschen. »Verbrechen« und »Krawalle« in den Pariser Vorstädten2 sowie teils spektakuläre Streikbewegungen waren damals zentraler Topos der französischen Debatte und beliebtes Medienthema.3 Bourdieu nahm die Aufgabe an, lehnte aber ab, die »soziale Malaise« mit konventionellen Fragebogentechniken anzugehen, und skizzierte stattdessen ein qualitatives Untersuchungsdesign, aus dem dann eine ebenso »einfühlsame« wie »skalpellscharfe« Sozioanalyse Frankreichs entstand – gestützt auf die Dokumentation von 40 Einzelschicksalen.4
Das Werk traf den Nerv der Zeit: Die 1.000 Seiten von La misère du monde verkauften sich allein in Frankreich im ersten Jahr über 100.000 Mal und lösten auch international eine Forschungsbewegung aus, die von unten auf die Welt blickt. Das Elend der Welt diente sogar als Vorlage für Theaterinszenierungen und schwappte auch über die deutsch-französische Grenze. Günter Grass, Daniela Dahn und Johano Strasser veröffentlichten 2002 »Zeugnisse alltäglichen Leidens an der Gesellschaft«5, und der Bourdieu-Vertraute Franz Schultheis gab 2005 mit Kristina Schulz eine deutsche Variante des ›Elends‹ heraus.6
Der ›Welt‹-Anspruch im Titel mag vermessen klingen, werden in La misère du monde doch nur Franzosen interviewt. Verwaltungsangestellte, Einwanderer, Polizisten, Familien in den Banlieus. Der Anspruch von Das Elend der Welt ist trotzdem global – weniger, weil ›monde‹ im Französischen auch einfach als ›Leute‹ verstanden werden kann,7 sondern weil das Buch vor dem Hintergrund weltweiter Deregulierungen der Finanzmärkte, tiefgreifender Umbrüche auf dem Arbeitsmarkt sowie umfassender Veränderungen des gesellschaftlichen Lebens entstand.8 Bourdieu selbst hat von einer »kollektiven Konversion zur neoliberalen Sichtweise […] im Schulterschluss mit den sozialistischen Parteiführern« gesprochen,9 die in den 1990er-Jahren und 2000er-Jahren unter Bill Clinton, Tony Blair und Gerhard Schröder als Strategie »des dritten Weges« vorangetrieben wurde.10
Im Elend der Welt zeigt sich die »Abdankung des Staates«: beim Wohnungsbau, bei der Überführung öffentlicher Dienstleistungen in den Privatsektor oder bei der Transformation schulischer Einrichtungen. Das alltägliche Leid spielt sich bei Mietern von Sozialwohnungen ab, deren Siedlungen zu Ghettos gemacht wurden, bei Einwanderern, denen das ethnische Stigma auf unauflösliche Weise in Hautfarbe und Namen eingeschrieben ist,11 bei kleinen Beamten und Sozialarbeitern, die »die unerträglichsten Auswirkungen und Unzulänglichkeiten der Marktlogik kompensieren müssen«,12 im Abstieg und Niedergang der alten Arbeiter, in ihrem Hass auf die neuen Vorarbeiter13 oder bei Landwirten, denen die Frauen auf den Feldern fehlen, denen die Investitionen buchstäblich versickern und die (als das Mikrofon abgestellt ist) mit einem tiefen Seufzer ihre Sympathien für den Anführer der rechten Partei Front National gestehen.14 Durch die Analyse der individuellen Situation gelingt es dem Forscherteam um Bourdieu, Entwicklungen von gesamtgesellschaftlicher Tragweite (und die Zukunft) zu erfassen.
Was hat das mit den Medien zu tun?
Ob Folge der von Bourdieu angeklagten neoliberalen Politik unter sozialdemokratischer Absolution oder nicht: Knapp drei Jahrzehnte nach La misère du monde steckt die Demokratie westlich-liberaler Prägung in der Krise.15 Symptome sind nach herrschender Meinung das Erstarken autoritärer Regierungen in postsozialistischen Ländern, der Aufstieg der neuen Rechten, der Brexit oder Donald Trump. Nicht erst seit den Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen ist die öffentliche Sorge um den Fortbestand der Demokratie auch in Deutschland zentraler Topos gesellschaftlicher Debatten. Der Soziologe Stephan Lessenich (um nur einen prominenten Sprecher zu zitieren) nennt als Indikatoren die »Eruptionen von Hass in sozialen Medien«, eine »sich leerlaufenden transmediale Aufregungsmaschine«, die »Unversöhnlichkeit des Umgangstons in