Hannah von Bredow. Reiner Möckelmann
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Zu England gab es in der Familie Bismarck nicht nur durch Marguerites Großeltern Whitehead enge familiäre Bindungen. Herbert von Bismarck verband auch eine vertraute, lebenslange Freundschaft mit Archibald Philip Primrose, dem 5. Earl of Rosebery. Der englische Staatsmann war Ende der 1880er- und Anfang der 1890er-Jahre Außenminister sowie von 1894 bis 1895 Premierminister. Seine Frau Hannah, Tochter und Erbin des Barons Mayer Amschel de Rothschild, war im Jahre 1890 gestorben.
In Gedenken an den frühen Tod der Frau seines Freundes Archibald benannte Herbert von Bismarck seine Erstgeborene nach ihr. Hannah äußerte sich nur verhalten zu ihrer Namensgeberin, die als wenig attraktiv, geistlos und übergewichtig beschrieben wurde. Die Freundschaft Herbert von Bismarcks mit Randolph Churchill, dem Begründer der modernen konservativen Partei und Vater des späteren Premiers Winston Churchill, bemühte Hannah von Bredow andererseits im Juli 1945, um über diesen ihre Ausreise in die Schweiz zu erreichen.
Ihren Großvater Otto von Bismarck sah Hannah bis zu ihrem fünften Lebensjahr nur besuchsweise. Erst nach seinem Tod zog ihre Familie von Schönhausen nach Friedrichsruh um. Lebenslang beschäftigte Hannah sich aber mit dem Großvater und verfolgte alle Publikationen, die sich mit seinem Leben und Wirken befassten. Als Kind hatte die Enkelin sich, dem Familienbrauch folgend, mit ihrem sprachbegabten Großvater in Englisch oder in Französisch, der Sprache der Diplomatie, zu unterhalten. Dieser Tradition war Hannah insofern gewachsen, als sie bereits in früher Kindheit von einer englischen Nanny und französischen Demoiselle in diesen Sprachen unterrichtet worden war. Hannahs Eltern redeten mit ihr erst ab ihrem vierten Lebensjahr regelmäßig deutsch. Auch Auslandsaufenthalte in England und Frankreich trugen dazu bei, dass Hannah später die beiden Fremdsprachen perfekt in Wort und Schrift beherrschte. In der guten Tradition ihres Großvaters schrieb sie längere Passagen ihrer Briefe an Sydney Jessen in Englisch oder Französisch, bisweilen angereichert durch Zitate aus Werken von Shakespeare oder Racine.
Was das Lernen anging, erklärte Mutter Marguerite der erwachsenen Hannah von Bredow später: „Ich finde es nur gut, wenn ein Mädel viel lernt, besonders auch Latein und Griechisch, je mehr sie arbeitet, desto weniger neigt sie zu dummen Ideen. Ich habe ja auch rasend gelernt, aber leider, leider nicht die alten Sprachen, und Du ahnst nicht, wie das Latein z.B. mir an allen Ecken und Enden fehlt. Ich komme mir ganz verloren vor und beneide Dich um Deine Kenntnisse.“
Hannah von Bredow musste ihre Mutter allerdings daran erinnern, dass diese früher die humanistischen Interessen der Tochter abgelehnt hatte und sie „diese Lateinstunden Bitten gekostet“ hätten. Vorwurfsvoll ergänzte Hannah, dass sie „ganz allein ohne Hilfe Latein gelesen, übersetzt und geschrieben“ habe, weil „Du mich immer wieder hindertest, genau wie mit der Matura, die Du mir an meinem 12. Geburtstag fest versprochen hattest und unter dem Vorwande ‚a lady does not compete with the rabble‘ zu einem unerfüllten Traum werden ließest.“
Die unterschiedlichen Bildungsvorstellungen von Mutter und Tochter schildert Hannah von Bredow im Jahre 1929 ihrem vertrauten Briefpartner Sydney Jessen anhand eines bezeichnenden Dialogs mit ihrer Mutter: „Weißt Du noch, wie Du mir sagtest: ‚Wen liebst Du mehr, mich oder das dumme Examen?‘ Und ich antwortete: Das ist kein Vergleich, worauf Du mir sagtest: ‚Mit 17 1/2 Jahren muss man seine Weltstellung im Auge haben, wenn man eine Frau ist, und gebildete Mädeln sind beliebt, aber studierende basbleus verhasst. Lass’ es mir zu lieb.‘ Wusstest Du das noch? Und wie ich dann nach Wien fuhr und aus Bock nach den Bällen um 5 a.m. bei hellem Sonnenschein nicht ins Bett ging, sondern Virgils Aeneis lernte, just to show myself that I was a free agent, subject to nothing! Darauf lachte sie [die Mutter] und sagte: ‚Ja, jetzt wäre ich froh, wenn Du Deinen Willen durchgesetzt und studiert hättest, wer weiß, ob du dann nicht heute eine andere Position hättest.‘“
Genauso wenig wie im Jahre 1910 dürfte Marguerite von Bismarck jedoch auch im Jahre 1929 ernsthaft daran gedacht haben, dass ihre Tochter Hannah ihr beachtliches Talent für Klavierspiel und Gesang in einer künstlerischen Karriere ausleben oder angesichts ihrer ausgeprägten geschichtlich-politischen Interessen einen wissenschafts- oder politiknahen Beruf ergreifen könnte. Nach dem Tod ihres Mannes Herbert hatte Marguerite von Bismarck die 13-jährige Hannah bereits mit verantwortungsvollen Aufgaben in Haus und Hof betraut. Diese Erfahrung und Hannahs breite Bildung sollten ihr aus Sicht der Mutter eine „gute Heirat“ ermöglichen und die Grundlage für ein ausgefülltes Leben als Ehefrau und Familienmutter bieten.
Hannah von Bredow entsprach aber nicht dem Rollenbild, welches ihre Mutter einer adligen jungen Frau in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zuordnete. Für eine adlige weibliche Normalbiografie fehlten Hannah die idealen Eigenschaften einer bloßen Gattin, Mutter, Herrin und Gesellschaftsdame. Die Grundlagen für ihr nichtkonformes Wesen legten indessen aber gerade die Familien der Bismarcks und der Hoyos’, in denen Hannah „von Kindheit auf unter Leuten, denen gründliches Wissen auf möglichst vielen Gebieten als unerlässlich für eine sogenannte gute Erziehung galt,“ lebte.
Und weiterhin erklärt Hannah von Bredow ihrem Briefpartner Jessen im Jahre 1936 zu ihren prägenden Erfahrungen: „Sei es nun in Österreich oder in Deutschland, immer waren auf den paar Gütern, die ich besser kannte, im Sommer Gelehrte, Künstler oder Musiker zu Gast, immer wurde ‚schöne Konversation‘ gepflegt oder etwas ‚getrieben‘, von den städtischen Wintern ganz zu schweigen. Als ich 16 war, nahm meine Mutter zum ersten Mal wieder eine Wohnung in Berlin und widmete sich dem Problem unserer Allgemeinbildung. Dauernd kamen Leute, die man heutzutage ‚geistig prominent‘ nennen würde, zu den Mahlzeiten, dazu gesellten sich Vorträge an der Universität (so fürs Volk ohne Abitur), in Museen etc.“
So wusste Polly, Gräfin von Plessen-Cronstern, geb. Hoyos, ihrer Schwester Marguerite im Sommer 1911 über Gespräche der 18-jährigen Nichte Hannah in Wien mit ihrem Mann Ludwig zu berichten: „Ludwig und Hannah sind nur große Politik und sonst nichts. Die Debatten gehen stundenlang, Ludwig ist selig: ‚Ganz Herbert‘, meinte er neulich.“
Prägend für Hannahs Rolle als gesellschaftliche „Außenseiterin“ war auch der Umstand, dass die häufig kranke und bettlägerige Marguerite ihrer Ältesten nach dem frühen Tod von Herbert die Rolle des Familienoberhaupts übertrug. Wie erwähnt hatte Hannah schon mit 13 Jahren verantwortungsvolle Aufgaben in Haus, Hof und Forst sowie für das Personal wahrzunehmen. Bereits in diesem Alter zeigte sie Selbstvertrauen und Resolutheit, obwohl weitere prägende Erfahrungen eher für Scheu und Zurückhaltung sprachen.
Von Geburt an war Hannah auf dem rechten Auge blind, auf dem linken Auge hatte sie eine stark reduzierte Sehkraft. Aus kosmetischen Gründen entfernte man einen Star, der das rechte Auge bedeckte, als sie vier oder fünf Jahre alt war. Außerdem hatte sie ein auffälliges rotes Muttermal am linken Unterarm, welches im Alter von sieben Jahren beseitigt werden sollte. Das erschreckende Ergebnis war, dass „der ganze Arm mit dem Rasiermesser ohne Anästhesie geschält“ wurde und auf der gesamten Länge eine rote Narbe hinterließ.
Lebenslang trug die modebewusste und elegante Hannah von Bredow Handschuhe und langärmelige Kleider. Mit eisernem Willen machte sie das Beste aus ihren körperlichen Defiziten. Von Kindheit an war sie so erzogen worden, „dass das, was mich so sichtbar von allen anderen Menschen äußerlich unterschied, an sich belanglos sei und niemals eine Rolle in meinem Leben spielen würde.“ Frühzeitig wurde ihr gesagt, „dass man es, um keine unnützen Fragen zu erwecken, und um die Menschen nicht zu stören, immer soweit verstecken würde, wie das durch Kleidung unauffällig möglich sei. Auf Fragen sollte ich ungeniert Antwort geben, da es nichts Böses, Ansteckendes oder Krankhaftes sei.“ Ihre Sehschwäche brachte es mit sich, „dass ich notgedrungen nach Stimmen, Händedrücken, Bewegungen gehen muss, weil bei mir das Auge ausscheidet.“
Hannahs körperliche Schwächen waren häufig Gegenstand von familiärem und gesellschaftlichem Klatsch. Sie stellte sich bald darauf ein: