Kein Lord wie alle anderen. Inka Loreen Minden

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Kein Lord wie alle anderen - Inka Loreen Minden

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      Rochester, England

      Oktober 1835

      Izzy versuchte, kleine, langsame Schritte zu machen, damit es nicht so aussah, als würde sie um ihr Leben rennen. Na schön, im Grunde tat sie genau das, doch sie hatte ihrer Stiefmutter versprochen, sich zu benehmen. Außerdem würde es in diesen engen Schuhen und dem pompösen Kleid ein schwieriges Unterfangen werden, die Flucht zu ergreifen. Ach, wie fantastisch wäre es, wenn sie jetzt ihre bequemen Hosen tragen könnte!

      Wann immer sich Izzy eine Gelegenheit bot, sich von einer Veranstaltung fortzuschleichen, nutzte sie diese Chance, denn sie hasste opulente Feiern. Besonders solche, die ihre Stiefmutter extra für sie organisierte, um sie unter die Haube zu bringen.

      Was für ein Albtraum, dachte Izzy unentwegt, während sie durch Trenton House eilte, auf der Suche nach einem ruhigen Ort, an dem sie sich eine Strategie überlegen konnte. Irgendwie musste es doch möglich sein, ihren Kopf aus der Schlinge zu ziehen! Schade, dass es draußen bereits zu kalt und zu dunkel war, sonst hätte sie sich in den Garten zurückgezogen.

      Izzy hatte vorgegeben, sich die Nase zu pudern, um der Hitze, dem Lärm sowie den penetranten Gerüchen nach Duftwässerchen und Schweiß eine Weile zu entfliehen. Gerade hatte sie einen Cotillion mit Lord Rochford getanzt – den sie zugegebenermaßen trotz seines Rufes äußerst sympathisch fand. Doch der nächste Herr stand schon für eine Quadrille bereit. Zum Glück machten die Musiker jetzt eine kurze Pause, was ihr sehr gelegen kam, denn dank ihrer Stiefmutter Rowena waren alle Plätze auf Izzys Tanzkarte vergeben.

      Während sie zu den Ruheräumen hastete und auch schon die zahlreichen Stühle sah, die davor aufgestellt waren, hörte sie hinter sich im Haus den Hall weiterer, schwererer Schritte. Gewiss würde sie nicht lange allein sein!

      Sie drehte sich kurz um, erkannte aber in dem von Kerzen erleuchteten Gang niemanden. Doch wer auch immer hierher unterwegs war – und den Geräuschen nach zu urteilen konnte es nur ein Mann sein –, würde gleich um die Ecke biegen.

      Flugs versteckte sich Izzy hinter einem Vorhang, der den Flur zu den Räumlichkeiten der Angestellten verdeckte, und lehnte sich an die Wand. Sie wartete, bis der Unbekannte an ihrem Versteck vorbeigegangen war, und hielt die Luft an, als die Schritte abrupt verstummten. Ganz in der Nähe vernahm sie einen schweren Seufzer, dann ein Knarzen – Stille.

      Ihre Neugier war geweckt. Sie war wohl nicht die Einzige, die die Feierlichkeiten ermüdeten, und wollte unbedingt ihren Bruder im Geiste kennenlernen. Ob es Lord Rochford war? Er hatte sich zwar nicht anmerken lassen, dass ihn die Veranstaltung langweilte, aber sein Blick war immer wieder zur Tür gehuscht.

      Gerade, als Izzy mit dem Zeigefinger den Vorhang ein winziges bisschen zur Seite bewegen wollte, um in den Gang zu schielen, hörte sie ein leises, doch sehr deutliches Stöhnen.

      Augenblicklich erstarrte sie, eisige Schauder krochen über ihr Rückgrat und das lustverzerrte Gesicht von Papas ehemaligem Freund tauchte vor ihrem inneren Auge auf. Was sie vor vielen Jahren als Kind erlebt hatte, verfolgte sie bis heute.

      Sie verdrängte die alten, brutalen Bilder und fasste all ihren Mut zusammen, um zu spionieren. Zu ihrer grenzenlosen Erleichterung sah sie nur einen Mann, allein und angezogen, auf einem der Stühle sitzen. Izzy wusste natürlich sofort, wer das war, schließlich waren sie sich bereits vorgestellt worden: ihr neuer Nachbar, Henry Griffiths, der Marquess of Wakefield, von allen nur »der unheimliche Lord« genannt. Er massierte durch die Hose hindurch seinen linken Oberschenkel und kniff die Lider zusammen. Sein dunkelbraunes, fast schwarzes Haar fiel ihm vor die Augen, weil er den Kopf gesenkt hielt. Da Izzy genau auf die entstellte Seite seines Gesichtes blickte, wusste sie nicht, ob es vor Schmerzen verzerrt war oder wegen der schrecklichen Narben. Was ihm wohl zugestoßen war?

      Es wurde gemunkelt, er sei in Indien schwer verwundet worden. Ob ihm eine alte Kriegsverletzung am Bein zu schaffen machte? Izzy hatte beobachtet, dass er manchmal leicht humpelte. Nach dem letzten Tanz mit ihrer Stiefmutter war es besonders auffällig gewesen.

      Ihr Herz verkrampfte sich, denn er stand als Nächster auf ihrer Tanzkarte. Izzy wollte seine Schmerzen auf keinen Fall verschlimmern!

      Für einen Moment erlaubte sie sich, ihren neuen Nachbarn intensiver zu betrachten. Obwohl er erst seit Kurzem dem Adelsstand angehörte, kam es Izzy so vor, als wäre er als Lord geboren worden. Dabei hatte er vor noch gar nicht allzu langer Zeit in der britischen Armee gedient. Der Marquess trug edle Kleidung – Breeches und einen dunkelblauen Gehrock, unter dem eine hellblaue Seidenweste und ein weißes Hemd zu erkennen waren – und wusste sich perfekt zu benehmen. Er stand nur manchmal etwas steif im Raum; da zeigte sich wohl die Offiziersausbildung. Und seine Haut erschien Izzy ein wenig sonnenverwöhnter als die der meisten anderen Männer.

      Als er zuvor den Salon betreten hatte, war er ihr wegen seiner Größe und der düsteren Ausstrahlung sofort aufgefallen. Doch er war weder ein Riese noch massig wie ein Stier, sondern schlank mit genau den richtigen Proportionen. Bei ihm schien alles zusammenzupassen; die breiten Schultern harmonierten gut mit seinen langen Beinen. Außerdem befand er sich mit einunddreißig Jahren im besten Alter – Rowena hatte ihr natürlich gestern über jeden geladenen Herren detaillierte Informationen gegeben. Ihre Stiefmutter schien immer alles zu wissen!

      Rowenas Pläne hin oder her – für den unwahrscheinlichen Fall, dass Izzy doch einmal plante, zu heiraten, würde ihr solch ein Mann wie Henry Griffiths gefallen, denn die furchtbare Verletzung schreckte sie nicht ab. Wenn er nur nicht so undurchsichtig wäre!

      Plötzlich legte der Marquess den Kopf in den Nacken und zerrte an seinem Krawattentuch, als würde es ihn einengen. Für einen winzigen Moment erblickte Izzy Lord Wakefields Hals und die leichte Auswölbung seines Adamsapfels – dem Attribut, das nur Männer besaßen.

      Ihr Herz machte einen ungewohnten Doppelschlag und die Knie wurden ihr ein wenig weich. Es war ja nicht gerade so, als würde sie einen nackten Mann beobachten, doch der Moment hatte durchaus etwas Intimes an sich.

      Isabella Norwood, vernahm sie schlagartig in ihren Gedanken die Stimme ihrer Stiefmutter – die seit einer Weile Izzys Stimme der Vernunft war. Hör sofort auf, diesen Herrn anzustarren, das gehört sich nicht!

      Sie wusste ja selbst, dass sie gerade etwas Ungebührliches machte, doch der Mann faszinierte sie von all ihren Gästen am meisten. Wahrscheinlich, weil ihn eine geheimnisvolle Aura umgab.

      Es hieß, der Marquess sollte nie lächeln – darauf hatte sie bis jetzt nicht geachtet –, blickte meist düster drein – vielleicht ein wenig ernst, ja – und sollte für den Tod des früheren Lord Wakefield, Philipe Cranton, verantwortlich sein. Das erzählten zumindest einige Bewohner der angrenzenden Stadt Rochester und der umliegenden Dörfer.

      Izzy erschauderte. War Henry Griffiths wirklich ein Mörder?

      Natürlich konnte sie sich vorstellen, dass jemand eine ganze Familie umbrachte, nur um an den Titel und die Ländereien zu gelangen. Es gab solch böse Menschen, keine Frage. Aber soweit ihr bekannt war, hatte sich Mr Griffiths zum Zeitpunkt des Unglückes immer noch in Indien aufgehalten. Papa hätte ihn auch niemals eingeladen, wenn er sich nicht absolut sicher wäre, dass dieser Mann eine gute Partie für sie abgeben würde.

      Izzy atmete ein wenig auf. Papa wollte immer nur das Beste für sie. Trotzdem sollte sie weiterhin in ihrem Versteck bleiben. Es wäre grauenvoll, wenn sie jemand allein mit Lord Wakefield vorfinden und sie vielleicht zu einer Heirat mit ihm drängen würde. Im Grunde wusste niemand etwas über ihn, denn er kam nicht aus dieser Gegend, keiner kannte ihn von früher.

      Was, wenn er

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