Bin kaum da, muss schon fort. Sabine Herold

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Bin kaum da, muss schon fort - Sabine Herold

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ist meine Schwangerschaft zu Ende. Es dauert keine sieben Monate mehr. Das Kind ist »geboren«– ein Mädchen. Irgendwie hilft mir der Traum von letzter Woche, denn nun ist das Kind kein »Etwas« mehr, sondern hat ein Geschlecht, ist eine Persönlichkeit – meine Tochter!

       Brief an mein Kind

      Ich nehme den Block, den mein Mann mitgebracht hat, und schreibe einen Brief an mein Kind, aber auch einen Brief an Gott, den ich im Hier und Jetzt nicht verstehe:

      Jetzt ist alles vorbei. Kein Kind mehr in mir. Die Angst und Unsicherheit der letzten Tage sind gewichen. Nur der Schmerz bleibt: der körperliche Schmerz im Bauch; die Lücke, die du einst ausfülltestund der Seelenschmerz.

       Mein Kopf will erklären; meine Seele weint. Du bist tot. Und mit dir ist ein Teil meines Herzens gestorben.

      Auch wenn mein Körper schon bald den alten Zustand wiedererlangt hat, ist meine Seele noch bei vorgestern, als du noch da warst; bei gestern und bei heute, als mich der Schmerz durchdrang. Meine Seele ist noch nicht im Jetzt angekommen, hat noch ein Kindund wird dich immer als Kind haben, auch wenn du dann vielleicht im Zimmer der Erinnerung wohnst.

       Dein Tod ist im Moment das Schlimmste für mich. Es ist nicht das Ende der Welt. Es ist das Ende meiner Welt!

      Das Leben geht weiter; die Zeit läuft unaufhörlichdoch bei mir steht sie still. Gott, ich weiß nicht warum. Aber ich frage dichund ich warte auf eine Antwort!

      In der Nacht wechseln sich Schlaf- und Wachphasen ab. Wenn ich einschlafe, träume ich komische Sachen rund um die Fehlgeburt. Ich weine im Traum und erwache auch weinend.

      Schon früh am anderen Morgen beginnt der Tagesbetrieb. Immer noch muss ich weinen. Dann wird ein Bett nach dem anderen neben mir belegt. Ich reiße mich zusammen. Trotzdem bin ich ständig kurz davor, erneut in Tränen auszubrechen.

      Ich liege auf dem Bett und schaue aus dem Krankenhausfenster. Das Wetter ist wunderschön. Ich kann sogar bis zu den Alpen sehen, die von sanftem Dunst umgeben sind. Das Morgenrot ist überwältigend. Doch was nützt mir der wunderbare Ausblick?

      Gerade habe ich unser zweites Kind verloren. Bisher habe ich immer gedacht, dass mir so etwas nicht passieren kann. Meine Mutter hat vier Kinder zur Welt gebracht, hatte nie Probleme während der Schwangerschaft. Nie eine Fehlgeburt. Wieso sollte mir dann so etwas geschehen?

      Was eine Frau durchmachen kann, die ein Kind verliert, war mir bisher fremd, nicht nachvollziehbar. Nun weiß ich selbst, was es bedeutet. »Kind, wo bist du?« Und dann kommen die Selbstvorwürfe: Vielleicht bin ich selbst schuld, dass sich das Kind gelöst hat. Vielleicht hätte ich meinen Sohn nicht mit dem Fahrrad in die Spielgruppe bringen sollen. Vielleicht hätte ich letzte Woche nicht zum Zug rennen sollen, den ich sowieso verpasst habe. Dann waren da die zwei Grippen. Vielleicht sind die der Grund für die Fehlgeburt.

      Während ich so in Schuldgefühlen versunken bin, kommt mein Mann. Er hat sich freigenommen, und ich bin sehr dankbar dafür, dass er da ist. Sobald die Ärztin noch einmal vorbeigeschaut und mir weitere Anweisungen und Medikamente gegeben hat, werde ich entlassen. Die Ärztin wünscht mir noch alles Gute. Alles Gute? Was soll das heißen? Was ist jetzt gut für mich?

      Zu Hause muss ich immer wieder weinen. Der innere Schmerz überrollt mich unangemeldet, heftig, tief. Doch jedes Mal versuche ich, ihn zu unterdrücken und mich zusammenzureißen, »stark« und »tapfer« zu sein. Ich fühle mich wie in einer anderen Welt, wie neben mir. Alles scheint so surreal zu sein. Vieles ist auf einmal belanglos, und ich merke, was im Leben wirklich wichtig ist.

       Was wirklich hilft

      Seltsamerweise höre ich in dieser Zeit von mehreren anderen Frauen, dass sie auch eine oder sogar mehrere Fehlgeburten hatten. Diese Frauen können mich am besten verstehen und helfen mir durch ihr Zuhören, ihr eigenes Erzählen, ihre Worte. Ich merke, dass diese Frauen wissen und am eigenen Leib erlebt haben, wovon sie reden. Von ihnen kommen keine Pauschalantworten wie: »Du bist doch noch so jung! Du hast ja schon ein Kind! Sei dankbar dafür! Dein Sohn braucht dich jetzt. Du kannst ja wieder schwanger werden. Das geht vielen so. Du bist halt keine robuste Person …« Derartige Antworten bekomme ich auch zu hören. Ich versuche zu verstehen, dass viele nicht wissen, was sie sagen und wie sie reagieren sollen, und dass wohl die meisten ihre Worte gut meinen. Ich fühle mich von ihnen aber nicht wirklich verstanden.

      Was mich vielmehr ermutigt, sind Sätze wie: »Jede Frau erlebt und verarbeitet eine Fehlgeburt anders. Gib und nimm dir jetzt Zeit, um zu realisieren, was alles in dir vor sich geht, um deine Gedanken und Gefühle zu ordnen. Weine, wenn dir danach zumute ist. Lass dir Zeit, von deinem Kind Abschied zu nehmen. Versuche das zu sehen, was du hast, und freue dich daran, zum Beispiel an deinem Mann und an deinem Kind. Akzeptiere nach und nach, dass das zum Leben gehört. Das ist die Realität. Wenn deine Gefühle in der nächsten Zeit sehr schwanken, dann hängt das auch mit dem Hormonwechsel zusammen, den du durchmachst. Suche jetzt viel Nähe zu lieben Menschen und Freundinnen, die dich verstehen. Sprich über das, was in dir vorgeht. Meide Menschen, die dich mit fertigen Antworten abspeisen, die dich stressen und dir die Kraft rauben.« Ja, und ich meide derartige Menschen. Ich überlege mir sehr gut, wem ich von meinem Erleben erzähle und wem nicht, welche Antworten ich vertragen kann und welche nicht.

      Die nächsten Tage werden nicht leicht. Ich versuche, den Schmerz zuzulassen, aber es ist jedes Mal ein Kampf. Von zwei Freundinnen bekomme ich Blumen. Einen Strauß Rosen und einen großen Strauß mit riesigen Sonnenblumen. Die Blumengeschenke freuen mich sehr. Ich erinnere mich auch an eine Karte von einer selbst betroffenen Frau, die mich ermutigt. Auch von meiner Mutter bekomme ich einen Brief, in dem steht, dass sich meine Eltern und Geschwister sehr auf das Baby gefreut hätten. Noch jemand, der unser Kind ins Herz geschlossen hat. Mitten in meinem Dunkel gibt es doch immer wieder Lichtblicke – sei es durch ein liebes Wort, eine mitfühlende Geste, eine Umarmung, Zuhören …

       Verarbeitung in der Stille

      Mein Rucksack ist schwer, zieht mich nach unten, fordert meine letzte Kraft. Ich trage Schmerz, Erschöpfung, Schuldgefühle und Angst mit mir herum. Meine Reise geht ins Tessin, wo eine Woche Stille auf mich wartet, »Geistliche Übungen« genannt. Das Thema lautet: »Zur Ruhe kommen bei Gott«– das, wonach ich mich im Innersten sehne.

      Ich bin äußerlich still, aber umso mehr wird mir meine Unruhe bewusst. Ich kämpfe zuerst gegen meine Gefühle, gegen die Tränen und die Trauer. Ich habe Angst, dass mich der Schmerz überrollt. Es fällt mir schwer, »schwach« zu sein und mich gehen zu lassen. Aber jedes Mal, wenn es doch möglich ist, spüre ich Erleichterung.

      In meinem Tagebuch halte ich den Trauerprozess täglich fest. Schreiben hilft mir. Es hilft, meine Gedanken und Gefühle und den Schmerz in Worte zu fassen, sie auszudrücken und bewusst zu machen.

       Wo bist du, Kind?

       Ich suche dich –

       doch du bist nicht mehr da;

       gegangen, aus mir, weg.

       Nichts bleibt –

       nur der Schmerz,

       ungeweinte Tränen,

       Verlust und Trauer.

      

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