Bin kaum da, muss schon fort. Sabine Herold
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unendlich müde.
Wo bist du, Gott?
Ich kann dich nicht finden.
Fremd bist du mir geworden.
Mein Kind hast du mir genommen.
Warum?
Für was?
Erst gibst du, dann nimmst du.
Dein Schweigen quält.
Sprich doch ein Wort –
dein Wort für mich!
Ich bitte Gott um die »Gabe der Tränen«, denn ich merke, dass ich das Weinen nicht erzwingen kann, dass aber trotzdem eine Sehnsucht in mir ist, zu weinen und zu trauern, weil die Tränen innerlich brennen und geweint werden wollen. Mir wird auch bewusst, dass ich Zeit brauche und dass das Erlebte nicht von heute auf morgen »gelöst«, betrauert und abgeschlossen ist. Ich könnte es wegschließen, unterdrücken, verdrängen, aber dann würde es im Unterbewusstsein weiterquälen. Ich bitte Gott, dass er mit mir in meinem Tempo durch den Schmerz geht.
Mir wird klar, dass ich meine Tochter nicht innerhalb von ein paar Tagen loslassen muss, aber dass ich mich mit meinem Kind zusammen Jesus überlassen darf – seiner Liebe, Obhut, seinem Blick und seiner Nähe.
Wenn ich Musik höre und sie in mir klingen lasse, dann wird auch meine Seele berührt, und ein Ventil öffnet sich.
Ich gebe meiner Tochter einen Namen. Sie soll nicht namenlos bleiben. Salome. Friede. Im Namen drückt sich meine Sehnsucht nach innerem Frieden aus, die Sehnsucht, bald auch über diesem Verlust zur Ruhe zu kommen. Noch einmal schreibe ich meiner Tochter, diesmal spreche ich sie mit ihrem Namen an:
Salome, ich sehne mich nach dir. Ich wüsste gerne, wie du ausgesehen hättest – deine Augen, dein Gesicht. Ich möchte dich in meinen Armen halten und liebkosen, möchte dich schützen und versorgen. Ich hätte so gerne erlebt, wie mein Bauch mit dir wächst, doch das wird ein Wunsch bleiben. Ich vermisse es, keine Kindsbewegungen von dir in mir spüren zu dürfen – nachts, wenn ich wach liege, oder auch am Tag. Ich wäre so froh gewesen, dich lebend zur Welt zu bringen, doch tot bist du geboren – als Abort verloren gegangen, ausgeschabt, ein Häuflein Gewebe, zur Unkenntlichkeit entstellt. Ich muss an all die Kinder denken, die nie geboren wurden und werden, auch an all die abgetriebenen Menschlein, die leben wollten, aber nicht durften, deren Leben grausam ein Ende gesetzt wurde. Salome, in meinem Herzen und meinen Gedanken bist du ein Mensch, mein Kind, mein Baby, meine Tochter.
In einer kleinen Kapelle sitze ich lange Zeit vor dem Kreuz und komme mit Jesus ins Gespräch. Endlich bricht die ganze Trauer aus mir heraus. Ich weine hemmungslos, schluchze, kämpfe nicht mehr gegen die Tränen. Sie dürfen kommen. Vor Jesus – dem, der unendlich für mich gelitten hat – brauche ich mich nicht zu schämen. Es tut gut, die Tränen zuzulassen und mich gleichzeitig dem zu überlassen, der mein Kind und mich selbst in der Hand hält.
Am nächsten Tag begegnet mir Jesus in der Stille. In einem inneren Bild bekomme ich drei Geschenke von ihm:
Es ist, als wenn er mir noch einmal für ein paar Wochen lang mein Kind zurückgibt, damit ich mich in Ruhe von ihm verabschieden kann. Ich darf mir Zeit lassen zu trauern.
Zweitens darf ich – eingehüllt in den Mantel seiner Liebe – weinen, klagen, trauern, meine Gefühle und den Schmerz zulassen. Und ich weiß: Jesus ist in diesem Schmerz bei mir. Er trauert mit mir. Vor ihm darf ich sein, wie ich bin, und das kommen lassen, was kommt – auch Tränen!
Das dritte Geschenk ist die Verheißung neuen Lebens. Vielleicht ein weiteres Kind? Ich weiß es nicht.
Die Zeiten der Stille tun gut. Es kommt mir vor, als wenn Jesus mir Sätze sagt wie: »Komm zu mir mit deinem Schmerz; ich weiß darum; ich halte dich. Ich lasse dir Zeit. Lass dir selbst auch Zeit – mindestens so lange, wie deine Schwangerschaft dauerte! Ich gebe dir Anteil an meinem Leben, geliebte Tochter. Und: Deine Salome ist sicher und geborgen bei mir!«
Diese Erfahrungen sind für mich sehr tiefe Begegnungen mit Gott, und ich gebe sie an dieser Stelle nur weiter, weil ich hoffe, dass sie vielleicht Frauen in ähnlichen Situationen trösten und sie ermutigen, sich von Gott ansprechen und halten zu lassen.
Das Wissen darum, dass ich trauern darf, entlastet mich und heilt sogar einen Teil des Schmerzes. Ich erlebe einen kleinen Durchbruch: neue Lebensfreude, Hoffnung, Trost. Der Himmel über mir scheint eine ähnliche Veränderung zu erleben. Bisher hat es nur geregnet. Jetzt endlich bahnen sich die Sonnenstrahlen einen Weg durch die Wolken. Der Himmel bricht auf:
Die Sonne scheint
und wärmt, umarmt und blendet mich –
nach dem Gewitter, den Regenschauern – Himmelstränen.
Licht – für mich.
Trost – von Gott.
Ich gehe zurück in den Schmerz, zu dir, Kind,
halte dich in meinen Gedankenhänden,
schaue dich mit meinem inneren Auge an,
liebe dich, liebkose dich in meinem Herzen.
Dabei bin ich getröstet und gehalten.
Ein Stärkerer ist bei mir,
der »Ich-bin-da«,
der zu mir in die Tiefe kommt,
der meine Schwachheit und Ohnmacht teilt.
Gott, ich überlasse mich dir.
Ich lasse meine »Haltung« los,
um von dir gehalten zu werden;
verliere meine Fassung,
um von dir erfasst zu werden.
Bei meinem nächsten Gespräch mit der Leiterin dieser Stillewoche lade ich endlich meine Selbstanklage, mein schlechtes Gewissen und meine Schuldgefühle, dass das Kind vielleicht wegen mir gestorben ist, ab. Ich vergebe mir selbst und nehme Gottes Vergebung in Anspruch.
Und dann vergebe ich Gott. Das klingt vielleicht seltsam, aber ich gebe ihm mein Nicht-Verstehen, meine Klagen und die vielen Fragen, auf die ich keine Antwort habe. Warum hat er mir meine Tochter genommen, wenn er doch der Gott des Lebens ist? Ich spreche diese Frage aus und weine den Schmerz heraus, und es tut gut. Ich lasse meine Erwartungen, die Schuld, in der er bei mir – wie ich meinte – steht, meine Forderungen, mein angebliches »Recht« auf dieses Kind los.
Schnell geht die Woche im Tessin zu Ende. Mit einem vollen Rucksack, aber mit einem erleichterten Herzen