Ungehorsam versus Institutionalismus. Schriften 5. Ulrich Sonnemann
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Überall hatte Ulrich Sonnemann – 1955 nach vierzehn amerikanischen Jahren nach Deutschland zurückgekehrt – in dem sich konsolidierenden Nachkriegsdeutschland der Bonner Republik unter Konrad Adenauer eine Subalternität erfahren, die ihn erschreckte; ihre Erscheinungsform eine »einheitliche Banausokratie«1, ablesbar an der blinden Gesetzestreue, sichtbar am Straßenverkehrsverhalten vor einer roten Ampel an einer verkehrslosen Kreuzung – »Trägheit der Seelen«2 nannte er das, wo der Einzelne sein gesellschaftliches Verhalten nach den »öffentlichen Verhältnissen«3 ausrichtet und die autonome Vernunftentscheidung vermeidet. Nichts Geringeres als eine habituelle Fundamentalveränderung sei das Gebot der Stunde in diesen frühen Jahren der Bundesrepublik, eine Revolution, deren Radikalität sich nicht mit dem Umsturz der Institutionen zufrieden gibt, sondern die Politik selbst, das Politische als Quellgrund gemeinsamen Handelns neu bestimmt und lebt. Das aber kann nur glücken durch »eine Vermenschlichung des deutschen Normalverhaltens, eine erneute Menschwerdung des Durchschnittsdeutschen«4.
1964 durfte einem da schon der Atem stocken: eine solche Sprache und Begrifflichkeit lag jenseits der Terminologien der frühen 1960er Jahre. Sie ermutigten und entmutigten zugleich. Ersteres mit der geistesgeschichtlich begründeten und legitimierten Symbiose von historischer Aufklärung und deren in die Wirklichkeit der Gegenwart drängenden Aktualität (»Die Stunde schlägt jetzt«5) – entmutigend aber die nüchterne Wahrheit, daß »ein Umbau der deutschen Verhältnisse […] nur Schritt um Schritt von innen nach außen erfolgen [kann], durch Gedächtnis- und Gewissensstärkung, seelische Mobilisierung der Menschen«6 – also durch Arbeit am und im Geistigen, wo Resultate am schwersten zu messen sind … Und das unter den Bedingungen von Wirtschaftswunder und ökonomisch-sozialem Optimismus der Adenauer-Erhard-Jahre. Sonnemann: »Ein solcher Umbau wiederum beginnt aber gar nicht, solange mit den jetzigen Verhältnissen so viel Zufriedenheit herrscht, daß er gar nicht gewünscht wird.«7
Ulrich Sonnemann ist kein ›kritischer Kritiker‹ der Negation und der Krise der Moderne; das ist er auch, vor allem in bezug auf das Deutschland, das sich aus dem Trauma des Nazismus zu befreien suchte – und da setzte er systematisch und soziologisch so gut wie psychologisch auf Wege aus der Katastrophe. Die positive Besetzung des Begriffs vom Ungehorsam ist dafür bezeichnend und emblematisch. Allerdings macht er es seinen Lesern und Leserinnen nicht leicht – damals nicht und den heutigen nicht minder, ja diesen vielleicht sogar noch schwerer, seit die Frankfurter Schule (zu der er nicht gehörte, wohl aber zu deren weiterem Umkreis) aus der intellektuellen Mode gekommen ist. Eine Maxime wie die beispielhaft folgende muß man sorgfältig und mehrfach lesen, um hinter ihren tieferen Sinn zu kommen: Für die Vorbilder neuer Verhaltensmodelle in Deutschland müsse als Handlungsmaxime gelten »die Entgötzung aller Ordnungen, die eine Unordnung verbergen, also ihren Grund vor der Autorität des Gewissens und des Geistes nicht zu benennen vermögen«8. Wenige Sozialphilosophen (wenn wir Sonnemann so nennen dürfen) waren in jenen Jahren der intellektuellen Rekonstruktion deutscher Identität nach dem Alptraum des Faschismus so sprachbewußt wie er. Vom »veränderten Gebrauch der Sprache«9 als unerläßlicher Voraussetzung für die geistige Hygiene eines demokratischen Deutschland ist wiederholt die Rede – nicht nur die Rede, sondern auch deren Gebrauch in den eigenen Texten (bei Sonnemann habe ich erstmals, 1968, die heute weitgehend durchgesetzte Gender-Sprachregelung von »Studenten und Studentinnen«10 gefunden). Das macht auch und nicht zuletzt die Schwierigkeit seiner Texte aus. Zusätzlich erschwert wird die heutige Lektüre durch die selten ausgeführten aber reichlich eingearbeiteten Bezugnahmen auf damals aktuelle tagespolitische Ereignisse, Konflikte und Diskussionen: Sonnemanns Essays sind trotz ihres hohen Abstraktionsgrades durchweg empirisch gesättigt.
Dieses im Umfang bescheidene Buch ist, wie der vom Verlag vorgeschlagene Titel deutlich macht, ein konstruktiver Diskussionsbeitrag: Ungehorsam als demokratische Tugend. Das war damals, in den sechziger Jahren, nicht so sehr eine Provokation als vielmehr eine inkommensurable Forderung, die quer lag zu allem, was als traditionelle deutsche Tugenden galt – gehorsam dem Gesetz, gehorsam der Autorität. Wie sieht es damit heute, also mit Sonnemanns Aktualität, aus? Wurde sein bei aller Komplexität seiner Sprache leidenschaftliches Plädoyer für die Unbotmäßigkeit, die »Fronde«11, wie er ausführt, für Widerstand und Aufklärung im Kantschen Sinne des eigenen Vernunftgebrauchs, seitdem gehört und gelebt? Hat sein Vernunft-Appell die »verdrängte Menschlichkeit des Deutschen«12 aus ihrer Verkrustung befreit? Sind wir Deutschen – ein halbes Jahrhundert nach Sonnemann – demokratischer, ungehorsamer geworden? Es wird sich empirisch nicht belegen lassen, daß oder ob Sonnemanns viel zu wenig rezipiertes Werk dazu oder wenigstens in den Köpfen und Herzen einiger weniger einen Beitrag geleistet hat – aber die Wege des Geistes gehen immer ihren eigenen Gang und folgen ihrem eigenen verborgenen Kompaß. Tatsache ist – oder jedenfalls scheint es im Jahr 2012 dem späten Wiederleser des Buches von 1964 so zu sein –, daß die Deutschen des einundzwanzigsten Jahrhunderts in der Tat sich in die Tugend des Ungehorsams eingeübt zu haben scheinen. Einen die Öffentlichkeit »nachhaltig beunruhigenden Studentenstreik«, den Sonnemann in Deutschland – im Unterschied zu Frankreich – mit Bedauern am Ende seines Buches vermißt, er wurde schon kurze Zeit später Wirklichkeit und ist es bis heute in der deutschen politischen Landschaft geblieben; so versteinert wie er damals das deutsche Parteiengefüge sah – zum Beispiel, daß neue Parteigründungen chancenlos geworden seien –, ist diese Gesellschaft dann doch wohl nicht, wenn eine ökologische Partei wie die ›Grünen‹– einzigartig in Europa! – zur Regierungspartei werden konnte und möglicherweise nun auch eine Anti-Partei wie die ›Piraten‹ in die Parlamente einzieht; und wenn ein amerikanischer Präsident, George W. Bush, auf die Pressekonferenz-Frage nach dem Beitrag Deutschlands zum Irakkrieg abschätzig antwortet, auf die Deutschen sei kein Verlaß, »they are pacifists«, dann kommen wir der zarten Utopie Sonnemanns, an die er selbst damals wohl kaum geglaubt hat, nahe mit seiner sehr langfristig angelegten Hoffnung auf Deutschland als »geschichtsfähig, endlich frei, was doch ein Novum wäre, ja nicht mehr und nicht weniger als eine späte europäische Sensation«13.
Und dann war da 2011 ›Stuttgart 21‹, der wohl dramatischste und emblematischste Demokratie-Konflikt seiner Art, von dem alle Beteiligten und Beobachter der Meinung sind, daß hier eine historische Epoche ihren Anfang – oder ihr Ende – gefunden hat: das Ende der gehorsamen Hinnahme politisch-administrativer Entscheidungen der politisch-ökonomischen Klasse und den Anfang eines neuen, selbstbewußten politischen Bürgertums. Den inzwischen gebräuchlichen Begriff vom »Wutbürger« würde Sonnemann vermutlich nicht übernommen haben, wohl aber hätte er, so steht zu vermuten, enthusiastisch Stéphane Hessels Appell »Empört Euch« aufgenommen und programmatisch verarbeitet. Von einer schleichenden »Diffamierung des Dagegenseins«14 als einer historischen Konstante der deutschen Identität wird man heute nicht mehr sprechen können: Die »an die Wurzel des Menschseins, des humanen Verhaltens« gehende »Verfemung des Opponierens«15 wurde spätestens ein knappes Halbjahrhundert nach Sonnemanns philosophischem Wachruf historisch überwunden. »1968« hat er noch die Anfänge der Studentenbewegung mit Sympathie und konstruktiver Kritik begleitet und Wege aufgezeigt, für die die ›Einübung‹ ebenso zu zeitig gekommen war, wie es seinen Reflexionen ein halbes Jahrzehnt