Markus Blume führt dich durch die Zeit. Lüerß Werner
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Nachdem ich mir die Eckdaten zusammengestellt hatte, wollte ich mir am nächsten Tag das Grundstück in Pankow ansehen – natürlich nur, wenn der Sturm sich gelegt hatte und ich in der Lage war, den Ort sicher zu betreten. Denn in Gefahr wollte ich mich nicht begeben, dazu hing ich doch zu sehr an meinen Leben.
Wie es aussah, war der Tag fast zu Ende. Die ersten Kollegen verließen ihre Büros. Ralf und ich waren fast immer die Letzten. Heute saßen wir gegenüber von unserem Büro noch ein bisschen im Café und unterhielten uns über die Dinge des Lebens.
*
Ralf brauchte nichts mehr einzukaufen; er hatte für seine Familie schon alle Geschenke beisammen.
„Und, Ralf“, fragte ich ihn, „wie sieht es bei dir aus? Gehst du zu jemand Heiligabend?“
„Nee, ich bleibe zu Haus und werde mich mal so richtig ausschlafen.“
„Was, du besuchst keine Bekannten?“
„Nein, Ich habe dir doch gerade gesagt, ich bleibe zu Haus.“
Als ich durch die Scheibe nach draußen guckte, bemerkte ich, wie Ralf mich anschaute. Er schüttelte den Kopf. Ich tat so, als ginge es mich nichts an.
Wir gönnten uns noch einen Milchkaffee und einen kleinen Kuchen. Draußen schneite es unaufhörlich; der Sturm hatte sich noch nicht gelegt. Nachdem wir ein Glas Barolo getrunken hatten, verließen wir gegen halb sieben das Kaffee. Ralf lief zum Bus. Er brauchte nur drei Stationen zu seiner Wohnung.
Die Akte Petach, die ich für morgen in meine Tasche stecken wollte, suchte ich vergebens. Meine Aktentasche war leer. Ein heißer Blitz durchfuhr mich: Ich hatte sie auf der Heizung im Büro liegengelassen! Also wieder zurück ins Büro. Im Haus war keiner mehr – nur Norbert, der Hauswart. Er wohnte im zweiten Stock. Ich klingelte ein paar Mal kräftig.
„Ja, wer stört mich beim Abendbrot?“
„Ich bin es, Markus!“
„Mann oh Mann, nicht du schon wieder! Warte, ich komme runter!“
Der Sturm schüttelte mich vor dem Eingang durch; die Zeit wollte nicht vergehen. Ungeduldig stand ich vor der Tür – wo er wohl blieb? Es vergingen nur Minuten, bis der Hauswart an der Tür war, aber durch das missliche Wetter wurde die Zeit ellenlang.
Norbert und ich fuhren mit dem Fahrstuhl ins zweite Geschoss. Hier trennten sich unsere Wege. Der Fahrstuhl summte leise bis zum siebten Geschoss. Es waren nur ein paar Schritte bis zum Büro. Ich schloss die Tür auf. Im Halbdunkeln fiel mein Blick auf die Heizung. Hier lagen die Unterlagen.
Beim Einpacken der Akte fiel ein alter Schlüssel aus einem kleinen Seitenfach auf den Boden. Ich hob ihn auf, schob ihn in die Aktentasche und machte mich endlich auf den Heimweg.
Minuten später saß ich entspannt in der U-Bahn. Auf einmal fiel mir der Schlüssel ein. Ich stellte mir vor, morgen in der Frühe in Pankow im Schnee zu stehen, keinen Schlüssel dabei. Das wäre für mich ein Grund gewesen zu hinterfragen, ob das, was mir so alles unterlief, noch ganz normal war. Ich brachte meine Gedanken schnell auf einen anderen Weg und dankte dem Zufall, dass ich meinen Weg noch mal über das Büro genommen hatte.
In der U-Bahn war nicht viel los. Schräg gegenüber unterhielten sich zwei Frauen mit vollen Taschen. Die hatten bestimmt viel Geld für Weihnachten ausgegeben. Ich fühlte Ruhe in mir und diese quirlige Gelassenheit, Menschen zu taxieren. „Ich bin ein Meister in meiner Welt, Markus, eben.“
„Mir gegenüber saß ein Mann, der diese Zeitung zwischen seinen fetten Fingern hielt“. An der linken Hand trug er einen übergroßen Ring mit einem Löwenkopf mit roten Augen. Seine Fingernägel hatten schwarze Ränder. Als ich meine Augen auf seine Schuhe lenkte sah ich, sie waren voller verkrustetem Dreck. Schlampe!
Ich versuchte, mit meinen Blicken die Zeitung zu durchdringen, um in das fette Gesicht dieser Type zu gelangen. Zuerst lief alles gegen mich. Er rührte sich nicht. Ab und zu stiegen kleine Wolken Zigarrenrauch auf. Beim Betrachten der Wölkchen fiel mir auf, dass der Mann die Zeitung auf dem Kopf hielt. Was für eine Kunst! Rauchend im Zug, dazu noch die Zeitung rückwärts lesend, perfekt! Meine Blicke vertieften sich noch mehr in die Zeitung.
„Ich starrte auf ihren Mittelpunkt. Langsam, ganz langsam senkte sie sich, sachte, zuerst sah ich nur die nach Gel triefenden angegrauten krausen Haare am Schädel angepresst, dann erschien das Gesicht. Erst die Stirn mit kleinen Falten, dann die buschigen Augenbrauen, seine stahlblauen Augen passten überhaupt nicht zu diesem Typen.“
Oh Schreck, was für eine rote Nase der hat, dachte ich. Ich sah in sein Gesicht, aufgeblasen wie ein rosa Luftballon und dieses schaute mich über die Zeitung geradewegs an. Dabei zog er kräftig an seiner Zigarre.
„Ich lachte ihn an, sagte fröhlich, wie man eben zu seinen Mitmenschen sein sollte: „Sie haben schon seit zwanzig Minuten Ihre Zeitung auf den Kopf gelesen! Wie machen Sie das denn?“
Der Fette bekam einen hochroten Kopf. Oh Mann, gleich platzt er!
In diesem Moment sprang der Kerl auf. Ich fürchtete, dass er sich mit einem Wutschrei auf mich werfen würde. Aber nein, was tat er? Er nahm die Zeitung, zerriss sie in Fetzen und schmiss sein Werk auf den Boden, um es mit seinen großen Füßen zu bearbeiten. Dann rannte er ans andere Ende des Abteils. Beim nächsten Bahnhof verließ er den Zug. Was es doch für Menschen gibt.
In der Residenzstraße sah ich plötzlich (Wunder gibt’s doch noch, ich habe meinen Bus erwischt!) war alles voll, Leute mit Paketen und Päckchen zogen durch die Straßen, ja, bald war Weihnachten.
Zu Hause zog ich mich erst einmal aus meinen Körperverpackungen, dann kochte ich mir eine Kanne Tee, Friesentee, und machte mir ein paar belegte Brote. Eigentlich wollte ich noch ein bisschen lesen, hatte aber doch keine richtige Einstellung zur Literatur an diesem Tag. Nachdem ich meine Abendpflege erledigt hatte, schlief ich schnell ein.
*
Am nächsten Tag, dem 22. 12. 1991, stand ich gegen sechs Uhr auf und schaltete schlaftrunken das Radio ein, meinen Lieblingssender, RIAS. Laut Wetterbericht sollte es ein schöner Wintertag werden. Ich freute mich. Der Tag konnte kommen! In mir war ein gutes Gefühl, alles lief prima. Ich hatte nichts vergessen und stand mit allem, was ich für den Tag brauchte, vor meiner Wohnungstür. Im Haus roch es nach Zimt und Honigkuchen. Im zweiten Stock öffnete Erika die Tür.
„Markus, könnten Sie mir heute Abend vielleicht ein paar Sachen mitbringen?“
„Aber sicher doch.“ Ich nahm den Einkaufszettel. Erika wollte mir gleich Geld geben.
„Nein, lassen Sie mal, das können wir doch heute Abend abrechnen …“
Ich machte mich auf den Weg nach Pankow. Auf der Straße überlegte ich: Wie kommst du jetzt am besten zur Wandlitzer Allee 32? Es sind von hier nicht mehr als acht Kilometer, aber die Verbindung mit der BVG ist nicht sehr gut. Ich entschloss mich, ein Taxi zu nehmen. Das konnte mit der Spesenabrechnung eingereicht werden.
Ich ging zur nächsten Ecke, winkte mir ein Taxi heran und setzte mich auf den Beifahrersitz. Der Taxifahrer, ein junger Mann mit Zickenbart, begrüßte mich überschwänglich, als wären wir alte Freunde.
Die Fahrt war schwierig. Überall war die Stadtreinigung dabei, den Schnee in den