Am Tag, als Walter Ulbricht starb. Jan Eik
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«Vielleicht versuchst du’s mal», sagte Erkenbrecher.
«Ich gründe dann extra einen Verlag dafür. Wenn es dir recht ist, fahren wir jetzt nach Lichterfelde raus. Die Bundesallee runter und dann die Schloßstraße, Unter den Eichen, Drakestraße, Ringstraße …»
Lilienblum konnte ihm nicht ganz folgen. «Die Bundesallee?»
«Ja, früher Kaiserallee.»
«Wie in Erich Kästners Emil und die Detektive. Warum muss denn bei euch immer alles umbenannt werden?»
«Alles nicht, aber du weißt doch: Neue Namen, neues Glück.»
Munter plaudernd fuhren sie in den tiefen Berliner Südwesten, wo Ernest Erkenbrecher am Kadettenweg eine ansehnliche, wenn auch nicht pompöse Villa gekauft hatte. Dem Sohn war das Souterrain überlassen worden.
Als sie vor der Garageneinfahrt hielten, kam Georgia Erkenbrecher in wehenden indischen Gewändern die Treppe herunter, um den Gast aus den USA mit großer Geste zu begrüßen. «Willkommen, lieber Julius, in der alten Heimat!» Dann redete sie in bestem Englisch auf ihn ein.
Georgia Erkenbrecher war die Tochter eines sächsischen Schriftstellers, der ein paar Jahre in den USA, im Bundesstaat Georgia gelebt hatte, und einer deutschstämmigen Stenokontoristin. Kurz nach der Hochzeit war das junge Paar nach Berlin gezogen und hatte seine erste Tochter, die nach Ende des Ersten Weltkriegs auf die Welt gekommen war, Georgia genannt.
Im Zweiten Weltkrieg waren sie zweimal ausgebombt worden, hatten aber überlebt, und Georgia war eine der ersten Studentinnen gewesen, die sich an der wiedereröffneten Berliner Universität für Chemie und Mathematik eingeschrieben hatten. Nach der Teilung der Stadt war sie zur West-Berliner FU gewechselt und nach einigen Irrungen und Wirrungen im Schuldienst gelandet. Bei einer der legendären Faschingsfeiern der Hochschule für Bildende Künste war sie Ernest Erkenbrecher begegnet und hatte sofort gewusst, dass er der Mann fürs Leben war. Was sie zusammenschweißte, waren ebenso genetische Programlichen Bildung und zu allem Schöngeistigen.
Man führte Julius Lilienblum ins Gästezimmer und gab ihm Gelegenheit, sich zwei, drei Stunden lang auszuruhen. Dann wollte man weitersehen.
Auch Erkenbrecher warf sich auf die Couch. Ins Institut musste er nicht mehr, sein Professor hielt nichts von festen Arbeitszeiten, und eine Lehrveranstaltung lag heute auch nicht an. Er rief nur schnell seine Verlobte an, dann hielt er Siesta und wachte erst wieder auf, als er seinen Vater kommen hörte.
Ernest Erkenbrecher malte zwar, fotografierte kunstvoll, spielte Cello, komponierte Filmmelodien und unterrichtete im Fach Architektur, war aber in der Hauptsache Kulturmanager, warb Gelder ein und organisierte Festivals. Er kannte Hinz und Kunz und konnte auf Knopfdruck Erhabenes sagen, so dass er ständig Festvorträge halten musste und stets im Gespräch war, wenn in Berlin ein neuer Kultursenator gesucht wurde. Er war 1916 in Liegnitz geboren worden, aber seine Eltern waren nach dem Ersten Weltkrieg nach Berlin gegangen, wo sie in Schöneberg einen Lebensmittelladen eröffnet hatten. 1933 hatten sie Hakenkreuzfähnchen ins Schaufenster gestellt, was Ernest, ein Verehrer Max Liebermanns, gar nicht gut gefunden hatte. Nach dem Abitur hatte er Architektur studiert, war aber bald eingezogen worden. Die Eltern und eine Schwester waren ins Erzgebirge evakuiert worden und dort hängengeblieben. Ein paar Mal leicht verwundet, hatte Ernest an der Westfront überlebt und zwei bittere Jahre in französischer Kriegsgefangenschaft einigermaßen unversehrt überstanden. 1947 war er nach Berlin zurückgekehrt, hatte ein Leben als Bohemien begonnen und war mit Chuzpe und Können zu dem aufgestiegen, was er jetzt war: einer Größe im West-Berliner Kulturleben.
Den Cousin aus Massachusetts begrüßte er so theatralisch, als würden sie auf der Bühne des Schillertheaters stehen: «Willkommen, mein lieber Julius, willkommen in Berlin. Mensch, wie freu ick ma! Um es mit Max von Schenkendorf zu sagen: Muttersprache, Mutterlaut! / Wie so wonnesam, so traut! / Erstes Wort, das mir erschallet, / Süßes erstes Liebeswort. / Erster Ton, den ich gelallet, / Klingest ewig in mir fort. / Überall weht Gottes Hauch, / Heilig ist wohl mancher Brauch; / Aber soll ich beten, danken, / Geb ich meine Liebe kund, / Meine seligsten Gedanken, / Sprech ich wie der Mutter Mund.»
Lilienblum lachte. «Hör auf mit so viel Pathos, Ernest. Bei der Mutter Mund denke ich sofort an einen Muttermund, der sich nicht öffnet, und frage mich, was ich meiner Patientin spritzen soll, damit sie ihre Wehen besser ertragen kann.»
Die beiden lagen sich nun in den Armen, und Erkenbrecher bemerkte schmunzelnd, dass die ältere Nachbarin, die dem Schauspiel hinter ihrer Hecke atemlos folgte, schon Tränen in den Augen habe.
Man setzte sich auf die Terrasse, um Kaffee zu trinken, dann wurde beschlossen, in die Stadt zu fahren und dem Gast die Mauer zu zeigen. Das war ein Ritual, das dem West-Berliner als unverzichtbar galt. Die Mauer erhöhte ihn, denn keine andere Stadt im gesamten Kosmos hatte ein solches Bauwerk aufzuweisen, und sie sorgte für große Gefühle: Man konnte dem Gast das eigene Elend schildern, mehr aber noch aus tiefstem Herzen das Schicksal der Deutschen drüben beklagen, der Brüder und Schwestern, man konnte die kommunistischen Diktatoren in Moskau und ihre DDR-Vasallen verfluchen. Hinzu kam die große Wut auf die Nationalsozialisten, ohne deren Schandtaten der Potsdamer Platz turbulenter gewesen wäre als Times Square und Broadway zusammen und nicht eine jämmerliche Brache. Die Mauer wühlte jeden auf, der auf die Podeste kletterte, die man an prominenten Stellen errichtet hatte.
Auch Lilienblum war ergriffen, als sie am Potsdamer Platz angekommen waren. «Nichts als Leere, wo früher einmal … Da drüben hat das Haus Vaterland gestanden, in dem ich immer mit Claire gesessen habe in einem der vielen Säle … Grinzing, Löwenbräu, Wild-West-Bar, Csardas, Bodega, Rheinterrassen … Du brauchtest nicht extra zu verreisen, mitten in deiner Stadt warst du woanders.»
«Das würde heute nicht mehr funktionieren», sagte Ernest Erkenbrecher. «Man will reisen, reisen, reisen.»
«Und dass sie das nicht können, ist für die Leute drüben in der DDR ganz besonders schmerzlich», fügte Georgia Erkenbrecher hinzu. «Wenn ich da an Carola denke …»
Günther Zützer war vor zehn Jahren aus Bad Urach geflohen. Zum einen, um der Bundeswehr zu entgehen, denn als West-Berliner war man von der Wehrpflicht befreit, zum anderen, weil er fürchtete, in der Enge der Kleinstadt zu ersticken. Die schwäbische Gemütlichkeit war ihm ein Greuel geworden, und gern zitierte er Nietzsche: Gutmütig und tückisch – ein solches Nebeneinander, widersinnig in Bezug auf jedes andre Volk, rechtfertigt sich leider zu oft in Deutschland: Man lebe nur eine Zeitlang unter Schwaben!
Eine Weile hatte er in West-Berlin studiert, mal dieses, mal jenes, es dann aber zu seinem Beruf gemacht, an Demonstrationen teilzunehmen und leerstehende Häuser «instand zu besetzen». Schließlich hatte er sein Studium sausen lassen und verdiente nun sein Geld als Kleindarsteller sowie mit einer Kneipe in der Kreuzberger Oranienstraße. An deren Wänden standen Sprüche wie Lieber eine schmutzige Unterhose als eine saubere Uniform oder Lieber eine Schwester im Puff als einen Bruder beim Bund.
Wenn Zützer etwas hasste, dann war es das Establishment, und zu dem zählte er auch die Erkenbrecher-Sippe. Besonders verhasst war ihm Ernest Erkenbrecher. Nicht nur wegen seiner Villa in Lichterfelde – galt doch: «Frieden den Hütten, Krieg den Palästen!» –, sondern auch, weil er, Zützer, alles Schöngeistige und Parfümierte ebenso verabscheute wie alle Kulturfunktionäre. Ernest Erkenbrecher war für ihn der GröSchwäZ, der größte Schwätzer aller Zeiten, oder ersatzweise Old Sabberlippe.
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