Die Bande vom Vorwald. Siegfried Böck
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Auf die absurde Idee, dem Forstmeister seinen Schnupftabak zu stehlen, auf so eine wirklich abnormale Idee würde natürlich niemand kommen. Oder etwa doch?
Das Hochhaus am Krähenbach
Hinter dem Forstmeisterhaus sind es nur noch ein paar Schritte, bis der Pflaumenweg in einen schmalen, aber geteerten Feldweg übergeht. Dieser Weg hat keinen richtigen Namen mehr, sondern ist nur noch der Feldweg Nummer 3. Ab hier ist Brommelshausen dann wirklich zu Ende. Für den alten Forstmeister Sägebrecht ist dieser geteerte Feldweg Nummer 3 eine gute Sache, denn er führt direkt zum Brommelshausener Stadtwald und ist praktischerweise genauso breit wie sein Geländewagen. Wer aber keinen Geländewagen besitzt und trotzdem zum Wald will, kann eigentlich auch ganz gut zu Fuß gehen, denn vom Forstmeisterhaus im Pflaumenweg bis zum Waldrand ist es nur ein kleiner Spaziergang durch ein paar Obstwiesen und Getreidefelder. Kurz vor dem Wald überquert man auf einer Brücke mit massivem Holzgeländer einen kleinen Bach, den Krähenbach. Die Bezeichnung „Bach“ ist bei diesem Rinnsal fast übertrieben, denn der Krähenbach ist, vor allem in den trockenen Sommermonaten, höchstens ein Bächlein oder auch nur ein Graben. Kleine Jungs und Mädchen und vielleicht sogar der alte Forstmeister Sägebrecht könnten mit Anlauf leicht darüberspringen, was aber bestimmt keiner machen würde, denn beide Ufer des Krähenbaches sind dicht mit hohen Brennnesseln und Weidengestrüpp bewachsen. Zumindest die Landung auf der anderen Seite des Baches könnte leicht in einem Brennnesselbusch enden und das wäre alles andere als angenehm.
Das Bächlein schlängelt sich mitsamt Brennnesseln und Weidengestrüpp mitten durch ein breites Wiesental, welches den Wald in eine nördliche und eine südliche Hälfte aufteilt. Wie es der winzige Krähenbach bloß geschafft hat, sich so ein großes Flusstal zuzulegen, ist mir schleierhaft, aber das muss ja nicht heißen, dass es dafür keine plausible Antwort gibt. Bei einer mächtigen, allein stehenden Kiefer biegt der Krähenbach dann scharf nach Süden ab und erreicht nach ungefähr zwei Kilometern den Rand des Stadtwaldes. Dort folgt ein weiterer scharfer Knick nach Westen, wo das Bächlein dann am Waldrand entlangplätschert, irgendwann den uns schon bekannten Feldweg Nummer 3 unterquert und schließlich im Zentrum von Brommelshausen in den großen Stadtfluss, nämlich in die Brommel, mündet.
Aber gehen wir zurück zu der mächtigen, allein stehenden Kiefer. Wen es interessiert, wieso diese Kiefer als einzelner Baum so mutterseelenallein mitten im Wiesental steht, der sollte vielleicht mal den Forstmeister Sägebrecht fragen, denn der weiß ja alles über den Wald und seine Bäume und mit Sicherheit weiß er auch, warum diese riesige Kiefer ausgerechnet hier ihren Platz gefunden hat. Auf jeden Fall hat dieser einsame Standort dem Wachstum der Kiefer in keiner Weise geschadet. Im Gegenteil, denn die Kiefer ist fast so hoch wie eines der beiden Brommelshausener Hochhäuser, oben in der Siedlung am Brommelberg.
Die Kiefer als Hochhaus zu sehen, dieser Vergleich ist eigentlich gar nicht so abwegig. Genauso wie die Hochhäuser auf dem Brommelberg bietet auch die mächtige, allein stehende Kiefer erstklassige Wohnungen für eine ganze Menge grabender, krabbelnder, kriechender, kletternder und fliegender Gäste. Ganz unten, tief im Wurzelwerk der Kiefer, ist Familie Rötelmaus zu Hause. Die Rötelmausfamilie lebt ziemlich zurückgezogen in ihren selbst gegrabenen Wohnhöhlen. Die Nachbarn wissen nicht viel von diesen Mitbewohnern, nicht einmal wie sie heißen. Es wird aber gemunkelt, dass sie eine Menge Kinder haben sollen und diese manchmal vor lauter Hunger an den Wurzeln der Kiefer nagen müssen. Gesehen hat das aber bisher noch keiner und man weiß ja, von dem, was in der Nachbarschaft so alles geredet wird, muss nicht immer alles wahr sein.
Im unteren Drittel der Kiefer erkennt man sofort den Anflieger. Das ist der große, kahle Ast, der aus dem Nadelgewirr herausragt und für alles, was Flügel hat, einen hervorragenden Landeplatz abgibt.
Ein ganzes Stück weiter oben, so in den mittleren Stockwerken des Kiefernhochhauses, befindet sich die Spechtsiedlung. Auf der Wetterseite des Stammes, dort, wo das Stammholz immer etwas morsch und weich ist, hat der eigenbrötlerische, immer etwas mürrische Schwarzspecht Fidelius Klopfer bereits vor zwei Sommern drei übereinanderliegende Spechtwohnungen gezimmert. Irgendjemand nannte diesen Teil der Kiefer damals Spechtsiedlung und der Name ist bis heute geblieben. Warum der ewig schlecht gelaunte Schwarzspecht ausgerechnet hier drei übereinanderliegende Wohnungen gebaut hat, darüber haben sich schon damals alle Bewohner der Kiefer gewundert. Denn Fidelius Klopfer war unverheiratet und wie sollte er drei Wohnungen gleichzeitig bewohnen? Vielleicht, so wurde getuschelt, wollte er auf diese Weise als dreifacher Hausbesitzer auch nur den Schwarzspechtdamen imponieren. Genützt hat es leider nichts, denn Fidelius Klopfer blieb damals den ganzen Sommer über trotzdem unverheiratet. Er blieb sozusagen auf seinen Wohnungen sitzen. Wahrscheinlich war er auch den Schwarzspechtdamen zu eigenbrötlerisch und zu mürrisch.
Offenbar hatte auch Fidelius Klopfer selbst eingesehen, dass seine Besitztümer bei der Schwarzspechtdamenwelt keinen Eindruck hinterlassen, denn gegen Ende des Sommers war er eines Morgens einfach verschwunden und die drei übereinanderliegenden Spechtwohnungen auf einmal ohne Besitzer.
Aber nicht für lange Zeit, denn im Umkreis der mächtigen Kiefer hatten schon viele Wohnungssuchende immer wieder mit begehrlichen Blicken auf die leer stehenden Wohnungen geschielt. So lange der Schwarzspecht die Wohnungen noch überwachte, traute sich natürlich keiner der Interessenten auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, eine davon in Besitz zu nehmen. Dazu war der Respekt vor dem Schwarzspecht einfach zu groß. Erstens, weil er immer so mürrisch war, und zweitens natürlich auch deshalb, weil er einen riesigen spitzen Schnabel besitzt und mit diesem Spechtwerkzeug wollte niemand Bekanntschaft machen.
Einige Tage nach dem plötzlichen Wegzug von Fidelius Klopfer begannen manche der Wohnungssuchenden so langsam etwas mutiger zu werden. Allen voran die Spechtmeise Herr Kleiber. Eigentlich ist so eine Spechtwohnung viel zu geräumig für eine Kleiberfamilie, aber Herr Kleiber war schon immer ein Vogel mit einem speziellen Geschmack und einer Vorliebe für großzügige Räumlichkeiten. Auf jeden Fall schwirrte Herr Kleiber schon länger um die Spechtsiedlung herum, tat aber immer so, als käme er nur so ganz zufällig vorbei, um in der Rinde der Kiefer nach leckeren Käferlarven zu suchen.
Herr Kleiber ist ein kleiner, bunter Vogel, so eine Art Mischung aus einem kleinen Specht und einer Meise. Er beherrscht das seltene Kunststück, einen Baumstamm nicht nur hinauf-, sondern auch hinunterrennen zu können und dies mit einer halsbrecherischen Geschwindigkeit, dass es einem schon vom Zuschauen schwindlig werden kann. Wie gesagt, Herr Kleiber ist von kleiner Gestalt, was ihn aber in keiner Weise daran hindert, ein sehr ausgeprägtes Selbstbewusstsein an den Tag zu legen. Die Selbstsicherheit dieses Winzlings gipfelt nicht nur darin, riesige Spechtwohnungen in Besitz zu nehmen, sondern auch in dem seltsamen Tick, darauf zu bestehen, vom Rest der Welt nur mit Herr Kleiber angeredet zu werden. Als zivilisierter Vogel legt er ja schließlich Wert auf gepflegte Umgangsformen. Einen Vornamen hat Herr Kleiber anscheinend nicht oder er ist so komisch, dass er ihn bis heute niemandem verraten will. Egal wie es ist, wer gegen die Anredevorschrift des Kleibers verstößt, wird sofort mit den Worten zurechtgewiesen: „Herr Kleiber, bitte. So viel Zeit muss sein!“ Die Betonung liegt dann unüberhörbar auf dem Wort „Herr“.
Kurz und gut, Herr Kleiber fing an, die unterste der Spechtwohnungen immer öfters zu besuchen, blieb dann einmal für eine Nacht, wahrscheinlich um auszutesten, ob wirklich alles im Reinen war, dann blieb er noch einmal eine Nacht und noch eine Nacht und eine Woche später begann er zu bauen. Nach genauer Untersuchung des Eingangstores hatte Herr Kleiber nämlich festgestellt, dass dieses Tor vielleicht für einen zu groß geratenen Schwarzspecht angemessen sein möge, aber nicht für einen anständigen Vertreter der Kleibersippe. Also musste der Eingang unbedingt verkleinert werden, und zwar so weit, dass wirklich nur noch die kleinen Leute aus der Kleibersippe hindurchpassen. Ein kleibermaßgerechtes