Die Bande vom Vorwald. Siegfried Böck
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Kurz gesagt, die Elsternburg auf der allein stehenden Kiefer ist die größte und mächtigste Burg in der ganzen Gegend und wer weiß, vielleicht sogar die größte im ganzen Land. In dieser luftigen Höhe zu wohnen, hat natürlich seinen besonderen Reiz, denn von dort können die scharfen Elsternaugen das Wiesental, den Krähenbach und den Wald, fast bis zur Lichtung Tannengrün, überblicken. So ein Weitblick ist ganz nützlich, denn es ist doch immer gut, anreisende Gäste frühzeitig zu sichten.
In der gemütlichen, mit Moos und trockenen Gräsern ausgepolsterten Nestmulde haben Emil und Ella Elster schon einige Generationen an jungen Schwarzweißen aufgezogen. In diesem Jahr waren es zwei Mädchen und zwei Buben und nach langem Überlegen haben Emil und Ella sich entschieden, ihren Kindern typische Elsternnamen zu geben. Die Buben heißen Edgar und Erich, die Mädchen Elfriede und Elsa. Der Nachname ist natürlich Elster, denn alle Schwarzweißen heißen mit Nachnamen Elster, egal wo sie zu Hause sind, sei es in Europa, in Amerika oder sonst irgendwo. Das ist nun einmal uralte Elsterntradition.
Die kleine Elsa wurde allerdings von Anfang an nur Elschen genannt, weil sie eben die Kleinste von allen war und übrigens immer noch ist.
Erich, Edgar, Elfriede und Elsa haben das ganze Frühjahr und einen Teil des Sommers in der Nestmulde verbracht und ihre Eltern in dieser Zeit ganz schön auf Trab gehalten.
„Tschääck, tschääck, wir haben Hunger, tschääck, tschääck!“, schrien Edgar, Elfriede und Elschen und rissen gierig die Schnäbel auf. „Tschiick, tschiick, ich habe auch Hunger!“, jammerte dann der kleine Erich, der einen Sprachfehler hat und deshalb kein richtiges tschääck, tschäck oder täk schäckern kann, was aber keinen stört.
So klang es den ganzen Tag in den Ohren der geplagten Eltern und Emil und Ella Elster sind kaum nachgekommen, die weit aufgesperrten Schnäbel mit allerlei Essbarem zu stopfen. Vor Kurzem sind die lieben Kleinen aber selbstständig geworden und an einem sonnigen Morgen sind sie alle miteinander ausgezogen. Jetzt wohnen sie zusammen mit anderen Elstern-Teenagern auf einem schönen Schlafbaum, eine gute Strecke bachaufwärts im östlichen Teil des Wiesentales.
Nur Elschen, das kleine, quirlige Elsternmädchen, hat sich noch nicht so ganz entwöhnt und kommt öfters mal auf einen Sprung vorbei, um sich zu vergewissern, dass es Mama und Papa auch wirklich gut geht. Bevor sie dann wieder zu ihrem Schlafbaum zurückfliegt, kuschelt sie sich jedes Mal, nur für eine kurze Flügelschlaglänge, in die weich ausgepolsterte Nestmulde und genießt dabei das wohlige Gefühl, wieder ein kleines, umsorgtes Elsternkind zu sein.
Ach ja, der Elstern-Teenager-Schlafbaum, der übrigens gar nicht mehr so heißt, weil er von den Jungelstern neulich kurzerhand in „Schlafbaum der wilden Vorwaldbande“ umbenannt wurde. Elstern-Teenager-Schlafbaum klang doch wirklich so was von langweilig und altmodisch. Den Gangnamen „Wilde Vorwaldbande“ hatten sie sich schon vorher ausgedacht. „Wilde Vorwaldbande“ war dann einigen doch zu lang, deshalb nennen sie sich jetzt meistens nur noch „Vorwaldbande“.
Der ehrwürdigen Linde ist es egal. Sie beherbergt schon seit vielen Elstern-Generationen die Jungelstern aus der ganzen Umgebung und hat dabei schon einiges erlebt. Nur sie allein kann den Anspruch erheben, die angesagteste Jugendherberge im ganzen Stadtwald zu sein. Ihre Exklusivangebote sind Waldrandlage, bequeme waagerechte Äste zum Sitzen und Schlafen und ein bevorzugter Ausblick auf den Krähenbach. Leider ist der Krähenbach in diesem Teil des Tales im Sommer meistens ausgetrocknet, was Elsternaugen aber nicht im Geringsten stört.
Jetzt könnte sich doch mancher fragen, was die Jungelstern von der wilden Vorwaldbande den ganzen Tag eigentlich so treiben. Kämpfen sie tollkühn gegen grimmige Feinde? Retten sie unter Einsatz ihres Lebens kleine hilflose Elsternküken?
Ganz so dramatisch ist der Alltag der Vorwaldbande sicherlich nicht, trotzdem gäbe es viel zu erzählen. Wir beschränken uns aber erst einmal auf eine kleine Episode, die sich vor einiger Zeit an einem heißen Augusttag zugetragen hat.
Eine kleine August-Episode
Kann es für Elstern-Teenager eigentlich was Schöneres geben als Sommer, warme Sonne, blauen Himmel und so viel zu essen, dass die fetten Insekten fast schon freiwillig in die träge geöffneten Schnäbel marschieren? Wenn das nicht das pralle Leben bedeutet, was soll denn dann noch Besseres kommen?
Alles könnte perfekt sein, wenn, ja wenn es nur nicht ganz so heiß wäre, wie es heute wieder der Fall ist. Die gelbe Scheibe, die so heiße Strahlen aussenden kann, klebt noch hoch über dem Horizont und die meisten Mitglieder der Vorwaldbande haben sich in die schattigen Tiefen des Forstes zurückgezogen, um dort, vor sich hindösend, der drückenden Hitze zu entfliehen.
Nur Edgar, Elfriede, Erich und Elsa sind auf dem Schlafbaum geblieben und hoch oben auf seinem Beobachtungsposten hält wohl auch Eddy Elster, der Schwarmspäher, noch die Stellung. Vielleicht in der Hoffnung, mal wieder etwas zu erspähen, was einen schönen Alarm wert wäre.
Edgar, Elfriede und Erich kauern mit ausgestellten Flügeln in den beschatteten Bereichen des Schlafbaumes und sehen so aus, als wäre Bewegung das Allerletzte, wonach ihnen jetzt der Sinn stehen würde.
Nicht so die kleine, zierliche Elsa, die deutliche Anzeichen von Langeweile zeigt. Unruhig und mit wippendem Schwanz turnt sie auf ihrem Ast herum, während sie quengelig zu ihrem großen Bruder hinüberschäckert.
„Täk, täk, Edgar, mir ist so krääähenmäßig langweilig und es ist sooo heiß! Wollen wir nicht zur Burg fliegen? Der Krähenbach ist dort noch nicht ganz ausgetrocknet.
Wir könnten uns ein bisschen nass spritzen und vielleicht auch ein paar dicke Schnecken aus dem Schlamm ziehen, täk, täk!“
Edgar sitzt mit halb geöffnetem Schnabel unter einem üppig belaubten Zweig, der sich wie ein Sonnenschirm über ihm ausbreitet, und hechelt sich die Hitze aus dem Leib.
„Täk, täk, Elschen, dich hat wohl die Krähe gekratzt. Es ist viel zu weit und viel zu heiß. So lange die gelbe Scheibe so hoch steht, werde ich mich hier nicht von der Stelle rühren, verstehst du, täk, täk.“
Damit ist für Edgar die Sache wohl erledigt, denn er dreht sich demonstrativ von der nervenden Schwester weg und verfällt wieder in seine selbsterwählte Hitzestarre.
Edgar ist der Älteste der vier Geschwister, denn er ist immerhin etliche Elstern-Flügelschläge vor Elfriede, der Zweitältesten, aus seinem Ei geschlüpft. Erich folgte erst eine Weile später und Elsa ist sowieso die Kleinste und die Jüngste. Für sein jugendliches Alter ist Edgar schon eine stattliche Elster und überragt alle anderen Elstern-Teenager um mindestens eine und seinen etwas klein geratenen Bruder Erich sogar um zwei Schnabellängen. Kein Wunder, dass Edgar der Schwarm vieler Elstern-Mädchen ist, denn er ist nicht nur groß und stark, sondern meistens auch nett und hilfsbereit.
Jetzt gerade findet Elsa ihren Bruder überhaupt nicht nett und schon gar nicht hilfsbereit, doch sie will noch nicht aufgeben und wendet sich deshalb mit einschmeichelndem Geschäcker an ihre anderen zwei Geschwister.
„Täk,