Die Welt unter Strom. Arthur Firstenberg
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In der Internationalen Klassifikation von Krankheiten (ICD-10) gibt es einen eindeutigen Code für Neurasthenie, F48.0. In der in den Vereinigten Staaten verwendeten Version (ICD-10-CM) wurde F48.0 jedoch entfernt. In der amerikanischen Version wird die Neurasthenie nur in einer Reihe von „anderen nicht psychotischen psychischen Störungen“ erwähnt und so gut wie nie diagnostiziert. Selbst im Handbuch Diagnostic and Statistical Manual (DSM-V), dem offiziellen System für die Zuweisung von Codes für psychische Erkrankungen in amerikanischen Krankenhäusern, gibt es keinen Code für Neurasthenie.
Allerdings war dies nur in Nordamerika und Westeuropa ein Todesurteil. Die Hälfte der Welt verwendet immer noch Neurasthenie als Diagnose im Sinne von Beard. In ganz Asien, Osteuropa, Russland und den ehemaligen Sowjetrepubliken ist Neurasthenie heute die häufigste aller psychiatrischen Diagnosen sowie eine der am häufigsten diagnostizierten Krankheiten in der Allgemeinmedizin.17 Es wird oft als Zeichen chronischer Toxizität angesehen.18
In den 1920er-Jahren, zu der Zeit, als der Begriff im Westen aufgegeben wurde, wurde er in China erstmals verwendet.19 Der Grund: China hatte gerade mit der Industrialisierung begonnen. Die Epidemie, die in Europa und Amerika bereits im späten 19. Jahrhundert angefangen hatte, hatte China zu diesem Zeitpunkt noch nicht erreicht. In Russland, das zusammen mit dem Rest Europas den Prozess der Industrialisierung anstieß, wurde die Neurasthenie in den 1880er-Jahren zur Epidemie.20 Die russische Medizin und Psychologie des 19. Jahrhunderts wurden jedoch stark vom Neurophysiologen Iwan Setschenow beeinflusst, der hervorhob, dass externe Reize und Umweltfaktoren die Funktionsweise von Körper und Geist verändern. Aufgrund des Einflusses von Setschenow und danach durch seinen Schüler Iwan Pawlow, lehnten die Russen Freuds Neudefinition von Neurasthenie als Angstneurose ab. Im 20. Jahrhundert fanden russische Ärzte dann eine ganze Reihe von Umweltursachen für die Neurasthenie, darunter die Elektrizität sowie elektromagnetische Strahlung in ihren verschiedenen Formen. Und schon in den 1930er-Jahren – da sie danach suchten und andere nicht – wurde in Russland eine neue Erkrankung namens „Radiowellenkrankheit“ entdeckt, die heute in aktualisierten Begriffen in medizinischen Lehrbüchern der gesamten ehemaligen Sowjetunion enthalten ist. Bis heute wird sie in westlichen Ländern ignoriert. Ich werde in späteren Kapiteln darauf zurückkommen.
In den frühen Stadien decken sich die Symptome der Radiowellenkrankheit mit denen der Neurasthenie. Als Lebewesen besitzen wir nicht nur einen Geist und einen Körper, sondern auch Nerven, die beide verbinden. Unsere Nerven sind nicht nur Kanäle für die Ebbe und Flut des elektrischen Fluidums aus dem Universum, wie früher angenommen wurde. Sie sind auch nicht einfach nur ein ausgeklügelter Botendienst, der die Muskeln mit Chemikalien versorgt, wie derzeit angenommen wird. Vielmehr sind sie – wie wir sehen werden – beides. Als Botendienst kann das Nervensystem durch schädliche Chemikalien vergiftet werden. Als Netzwerk feiner Übertragungsdrähte kann es leicht durch eine große oder unbekannte elektrische Last beschädigt oder aus dem Gleichgewicht gebracht werden. Das hat genau die Auswirkungen auf Körper und Geist, die wir heute als Angststörung kennen.
KAPITEL 6
Das Verhalten von Pflanzen
Als ich die Werke von Sir Jagadish Chandra Bose sah, war ich sprachlos. Als Sohn eines Beamten in Ostbengalen wurde Bose in Cambridge ausgebildet. Nach dem Studium kehrte er mit einem naturwissenschaftlichen Abschluss in sein Heimatland zurück. Er war ein Genie in Physik und Botanik mit einem außergewöhnlichen Auge für Details und einer ausgesprochenen Gabe, Präzisionsmessgeräte zu entwickeln. Bose vermutete, dass alles Leben auf den gleichen Grundlagen basierte. Auf dieser Prämisse baute er zweckdienliche Maschinen, die die Bewegungen von ganz gewöhnlichen Pflanzen hundert Millionen Mal vergrößern und automatisch aufzeichnen konnte. Das führte dazu, dass er das Verhalten von Pflanzen auf die gleiche Weise untersuchte, wie Zoologen das Verhalten von Tieren. So gelang es ihm, die Nerven von Pflanzen zu lokalisieren – nicht nur von ungewöhnlich aktiven Pflanzen wie der Mimose und der Venusfliegenfalle, sondern auch „alltäglichen“ Pflanzen – und diese auch tatsächlich zu sezieren. Dann bewies er, dass sie, genauso wie alle tierischen Nerven, Aktionspotenziale erzeugen. Er führte Leitfähigkeitsexperimente an den Nerven von Farnen durch, geradeso wie Physiologen es mit den Ischiasnerven von Fröschen tun.
Sir Jagadish Chandra Bose (1858–1937)
Bose entdeckte auch pulsierende Zellen mit besonderen elektrischen Eigenschaften im Stängel einer Pflanze und bewies, dass sie für das Pumpen des Safts verantwortlich sind. Er baute ein Druckmessgerät, einen sogenannten magnetischen Sphygmograf, der die Pulsationen zehn Millionen Mal vergrößerte und in der Lage war, Änderungen des Saftdrucks zu messen.
Das überraschte mich, denn heutzutage ist in botanischen Lehrbüchern nirgendwo ein Hinweis darauf zu finden, dass Pflanzen so etwas wie ein Herz und ein Nervensystem haben. Die nachstehend erwähnten Bücher von Bose über dieses Thema, darunter Plant Response (1902), The Nervous Mechanism of Plants (1926), Physiology of the Ascent of Sap (1923) und Plant Autographs and Their Revelations (1927), verstauben in den Archiven der Forschungsbibliotheken.
Aber Bose entdeckte nicht nur die Nerven von Pflanzen. Er stellte auch die Auswirkungen von Elektrizität und Radiowellen auf sie dar und kam dabei auf ähnliche Ergebnisse wie sie bei Ischiasnerven von Fröschen zu beobachten sind. Damit bewies er die subtile Sensibilität aller Lebewesen gegenüber elektromagnetischen Reizen. Sein Fachwissen in diesen Bereichen stand außer Frage. Er war 1885 zum amtierenden Professor für Physik am Presidency College in Kalkutta ernannt worden und leistete Beiträge auf dem Gebiet der Festkörperphysik. Ihm ist außerdem die Erfindung des sogenannten Kohärers zuzuschreiben, eines Geräts, das zur Dekodierung der ersten drahtlosen Nachricht Marconis über den Atlantik verwendet wurde. In der Tat stellte Bose die drahtlose Übertragung 1895 in einem Hörsaal in Kalkutta der Öffentlichkeit vor, mehr als ein Jahr vor Marconis erster Präsentation auf der Salisbury Plain in England. Bose strebte jedoch weder nach öffentlicher Anerkennung für seine Erfindung des Radios, noch war er an einer Patentanmeldung interessiert.
Stattdessen gab er diese technischen Aktivitäten auf, um den Rest seines Lebens dem weniger spektakulären Studium des Pflanzenverhaltens zu widmen.
Bei der Anwendung von Elektrizität auf Pflanzen stützte sich Bose auf eine Tradition, die bereits anderthalb Jahrhunderte alt war. Ein gewisser Dr. Mainbray aus Edinburgh war der Erste, der eine Pflanze mit einer Reibungsmaschine elektrifizierte. Im Oktober 1746 verband er zwei Myrtenbäume während des ganzen Monats mit einer Maschine. Beide Bäume sandten daraufhin in jenem Herbst neue Zweige und Knospen aus, als wäre es Frühling. Nachdem Abbé Nollet davon erfuhr, führte er im folgenden Oktober das erste einer Reihe genauerer Experimente in Paris durch. Neben Kartäusermönchen und Soldaten der französischen Garde elektrisierte Nollet auch Senfkörner, die er in seinem Labor in Blechschalen sprießen ließ. Die elektrifizierten Sprossen wuchsen viermal so hoch als normal, aber mit schwächeren und dünneren Stängeln.1
Um die Weihnachtszeit im Dezember desselben Jahres elektrifizierte Jean Jallabert Osterglocken-, Hyazinthen- und Narzissenzwiebeln in Karaffen, die mit Wasser gefüllt waren.2 Im folgenden Jahr elektrifizierte Georg Bose Pflanzen in Wittenberg3 und Abbé Menon in Angers.4 Für den Rest des 18. Jahrhunderts waren solche Vorführungen des Pflanzenwachstum bei Wissenschaftlern, die Reibungselektrizität untersuchten, äußerst beliebt. Die elektrifizierten Pflanzen keimten vorzeitig, wuchsen schneller und höher, öffneten ihre Blüten früher, hatten mehr Blätter und waren im Allgemeinen – aber nicht immer – belastungsfähiger.
Jean-Paul Marat beobachtete sogar, dass elektrifizierte Salatsamen im Dezember keimten, obgleich die Umgebungstemperatur nur zwei Grad über