Die Welt unter Strom. Arthur Firstenberg

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Die Welt unter Strom - Arthur Firstenberg

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ersten Veröffentlichungen setzten eine Lawine in Gang. „Im Laufe des letzten Jahrzehnts wurde mehr über Neurasthenie geschrieben“, schrieb Georges Gilles de la Tourette 1889, „als beispielsweise über Epilepsie oder Hysterie im gesamten letzten Jahrhundert.“10

      Die beste Weise, den Leser mit der Krankheit und ihrer Ursache vertraut zu machen, ist es, eine prominente New Yorker Ärztin vorzustellen, die selbst daran litt. Als die Ärztin über ihren Zustand berichtete, hatte die amerikanische Ärzteschaft schon seit fast einem halben Jahrhundert erfolglos versucht, die Ursache für Neurasthenie zu finden, und war schließlich zu dem Schluss gekommen, dass die Krankheit psychosomatisch war.

      Dr. Margaret Abigail Cleaves (1848–1917)

      Die in Wisconsin geborene Dr. Margaret Abigail Cleaves hatte 1879 ihr Medizinstudium abgeschlossen. Sie arbeitete zunächst im staatlichen Krankenhaus für Geisteskranke in Mt. Pleasant in Iowa. Von 1880 bis 1883 war sie Chefärztin für Patientinnen des Pennsylvania State Lunatic Hospital. Im Jahr 1890 zog sie in die Großstadt, wo sie eine Privatpraxis für Gynäkologie und Psychiatrie eröffnete. Erst 1894, im Alter von 46 Jahren, wurde bei ihr Neurasthenie diagnostiziert. Neu war in ihrem Fall ihre starke Exposition gegenüber Elektrizität: Sie hatte begonnen, sich auf Elektrotherapie zu spezialisieren. Dann eröffnete sie 1895 eine elektrotherapeutische Klinik mit Labor und Apotheke, die New York Electro-Therapeutic Clinic, Laboratory und Dispensary. Innerhalb von ein paar Monaten erlitt sie, was sie selbst als ihren „vollständigen Zusammenbruch“ beschrieb.

      Die Details, die im Laufe der Zeit in ihrer Autobiography of a Neurasthene niedergeschrieben wurden, erläutern das klassische Syndrom, das Beard fast ein halbes Jahrhundert zuvor dargelegt hatte. „Ich fand Tag und Nacht weder Frieden noch Trost“, schrieb sie. „Allerdings verblieben die gewöhnlichen Schmerzen von Nervenstämmen oder peripheren Nervenenden, die hohe Körperempfindlichkeit, die Unfähigkeit, eine Berührung zu ertragen, die stärker ist als das Gestreiftwerden durch einen Schmetterlingsflügel, die Schlaflosigkeit, der Mangel an Kraft, die wiederkehrende Depression des Geistes, die Unfähigkeit, mein Gehirn beim Lernen und Schreiben so einzusetzen, wie ich es wünschte.“

      „Es bereitete mir sogar die größten Schwierigkeiten“, schrieb sie bei einer anderen Gelegenheit, „Messer und Gabel am Tisch zu benutzen, wobei das einfache Zerschneiden praktisch unmöglich war.“

      Cleaves litt an chronischer Müdigkeit, schlechter Verdauung, Kopfschmerzen, Herzklopfen und Tinnitus. Sie fand den Stadtlärm unerträglich. Sie roch und schmeckte „Phosphor“. Sie wurde so sonnenempfindlich, dass sie in dunklen Räumen lebte und nur nachts ins Freie gehen konnte. Sie verlor allmählich ihr Hörvermögen auf einem Ohr. Der Einfluss atmosphärischer Elektrizität war so groß auf sie, dass sie aufgrund ihres Ischias, ihrer Gesichtsschmerzen, ihrer intensiven Unruhe, ihres Angstgefühls und des Eindrucks „eines erdrückenden Gewichts, das mich zur Erde beugt“, mit Sicherheit eine Wetterveränderung 24 bis 72 Stunden im Voraus vorhersagen konnte. „Unter dem Einfluss aufkommender elektrischer Stürme“, schrieb sie, „funktioniert mein Gehirn nicht.“11

      Und doch widmete sie sich durchgehend bis zum Ende ihres Lebens ihrem Beruf und setzte sich Tag für Tag der Elektrizität und Strahlung in ihren verschiedenen Formen aus. Sie war ein Gründungsmitglied und eine sehr aktive Mitarbeiterin der American Electro-Therapeutic Association. Ihr Lehrbuch über Lichtenergie gab Anleitung zur therapeutischen Verwendung von Sonnenlicht, Bogenlicht, Glühlicht, fluoreszierendem Licht, Röntgenstrahlen und radioaktiven Elementen. Und sie war die erste Ärztin, die Radium zur Behandlung von Krebs verwendete.

      Wie konnte sie es nicht gewusst haben? Und doch war das durchaus erklärlich. Damals wie heute verursacht die Elektrizität keine eigentliche Krankheit, und die Ursache der Neurasthenie – so hatte man endgültig entschieden – war im Geist und in den Emotionen zu finden.

      Andere verwandte Krankheiten wurden im späten neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert beschrieben. Hier handelte es sich um Berufskrankheiten bei Personen, die in der Nähe von Elektrizität arbeiteten. Der „Telegrafistenkrampf“ zum Beispiel, der von den Franzosen spezifischer „mal télégraphique“ („telegrafische Krankheit“) genannt wurde, weil seine Auswirkungen nicht nur auf die Handmuskeln des Telegrafisten beschränkt waren. Ernest Onimus beschrieb die Krankheit in Paris in den 1870er-Jahren. Diese Patienten litten an Herzklopfen, Schwindel, Schlaflosigkeit, geschwächtem Sehvermögen und dem Gefühl, „als würde ihr Hinterkopf in eine Schraubzwinge genommen“. Sie litten unter Erschöpfung, Depressionen und Gedächtnisverlust, und nach ein paar Jahren Arbeit verfielen einige dem Wahnsinn. Dr. E. Cronbach gab im Jahr 1903 in Berlin Fallbeispiele für 17 seiner Patienten, die Telegrafisten waren. Sechs litten entweder an übermäßigem Schwitzen oder extremer Trockenheit an Händen, Füßen oder Körper. Fünf andere klagten über Schlaflosigkeit. Bei fünf weiteren verschlechterte sich das Sehvermögen und wiederum fünf andere litten an einer zittrigen Zunge. Vier hatten ein gewisses Maß an Gehörverlust, drei einen unregelmäßigen Herzschlag und zehn waren sowohl bei der Arbeit als auch zu Hause nervös und gereizt. „Unsere Nerven sind kaputt“, schrieb ein anonymer Telegrafenarbeiter 1905, „und das Gefühl robuster Gesundheit ist einer kränklichen Schwäche, einer mentalen Depression, einer bleiernen Erschöpfung gewichen … Wir hängen immer zwischen Krankheit und Gesundheit und sind nicht mehr ganze, sondern nur noch halbe Menschen. Obwohl wir jung sind, fühlen wir uns bereits wie abgenutzte alte Leute, für die das Leben zur Last geworden ist … unsere Kraft ist vorzeitig erschöpft, unsere Sinne und unser Gedächtnis getrübt, unser Enthusiasmus gedrosselt.“ Diese Menschen wussten, was die Ursache ihrer Krankheit war. „Hat das Erwecken der elektrischen Energie aus ihrem Schlummer“, so fragte der anonyme Arbeiter, „eine Gefahr für die Gesundheit der Menschheit geschaffen?“12 Im Jahr 1882 nahm Edmund Robinson bei seinen Telegrafistenpatienten vom General Post Office in Leeds etwas Ähnliches wahr. Denn als er vorschlug, sie mit Elektrizität zu behandeln, „lehnten sie eine Behandlung dieser Art rigoros ab“.

      Schon lange vor diesem Ereignis hätte eine Anekdote von Dickens als Warnung dienen können. Er hatte das St. Luke’s Hospital for Lunatics, eine Anstalt für Geisteskranke, besucht. „Wir kamen an einem Mann mit Gehörlosigkeit vorbei“, schrieb er, „der jetzt von unheilbarem Wahnsinn geplagt ist.“ Dickens fragte, was die Beschäftigung des Manns gewesen sei. „Ja“, sagt Dr. Sutherland, „das ist das Bemerkenswerteste dabei, Mr. Dickens. Seine Aufgabe war die Übermittlung von elektrischen Telegrafennachrichten“. Man schrieb den 15. Januar 1858.13

      Auch Telefonisten erlitten häufig bleibende Gesundheitsschäden. Ernst Beyer schrieb, dass von 35 Telefonisten, die er während eines Zeitraums von fünf Jahren behandelt hatte, keine einzige Person zur Arbeit zurückkehren konnte. Hermann Engel hatte 119 solcher Patienten. P. Bernhardt hatte über 200. Deutsche Ärzte haben diese Krankheit gewohnheitsgemäß der Elektrizität zugeschrieben. Und nachdem Karl Schilling Dutzende solcher Publikationen überprüft hatte, veröffentlichte er 1915 eine klinische Beschreibung der Diagnose, Prognose und Behandlung von Krankheiten, die durch chronische Exposition gegenüber Elektrizität verursacht wurden. Diese Patienten hatten typischerweise Kopfschmerzen und Schwindelgefühle, Tinnitus und bewegliche Flecken in den Augen, die das Sichtfeld beeinträchtigten, einen rasenden Puls, Schmerzen im Bereich des Herzens und Herzklopfen. Sie fühlten sich schwach und erschöpft und konnten sich nicht konzentrieren. Sie konnten nicht schlafen. Sie waren depressiv und hatten Panikattacken. Sie zitterten. Ihre Reflexe waren erhöht und ihre Sinne hyperakut. Manchmal war ihre Schilddrüse hyperaktiv. Gelegentlich, nach langer Krankheit, war ihr Herz vergrößert. Ähnliche Beschreibungen kamen im Laufe des 20. Jahrhunderts von Ärzten aus den Niederlanden, Belgien, Dänemark, Österreich, Italien, der Schweiz, den Vereinigten Staaten und Kanada.14 Im Jahr 1956 berichteten Louis Le Guillant und seine Kollegen, dass es in Paris „keinen einzigen Telefonisten gibt, der diese nervöse Müdigkeit nicht mehr oder weniger stark

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