Die Welt unter Strom. Arthur Firstenberg

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Die Welt unter Strom - Arthur Firstenberg

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als Abtreibungsmethode verstanden. Francis Lowndes war zum Beispiel ein Londoner Elektropraktiker mit einer umfangreichen Praxis, der damit Werbung machte, mittellose Frauen kostenlos „wegen Amenorrhö“ zu behandeln.9

      Sogar Landwirte fingen an, die Wirkung von Elektrizität auf ihre Ernte zu testen und sie als Mittel zur Verbesserung der landwirtschaftlichen Produktion vorzuschlagen, wie wir in Kapitel 6 sehen werden.

      Die Anwendung von Elektrizität auf Lebewesen im 18. Jahrhundert war in Europa und Amerika so weit verbreitet, dass eine Fülle wertvoller Erkenntnisse über ihre Auswirkungen auf Menschen, Pflanzen und Tiere gesammelt wurde. Dieses Wissen ist völlig in Vergessenheit geraten, obgleich es weitaus umfangreicher und ausführlicher ist als das, was den Ärzten von heute darüber bekannt ist. Sie sehen zwar tagtäglich die Auswirkungen auf ihre Patienten, verstehen jedoch die Ursachen dafür nicht. Sie sind sich noch nicht einmal bewusst, dass dieses Wissen überhaupt existierte. Die Informationen hierüber sind sowohl formell als auch informell – Briefe von Personen, die ihre Erfahrungen beschreiben, Berichte in Zeitungen und Zeitschriften, medizinische Bücher und Abhandlungen, Vorträge auf Treffen wissenschaftlicher Gesellschaften und Artikel, die in neu gegründeten wissenschaftlichen Fachzeitschriften veröffentlicht wurden.

      Bereits in den 1740er-Jahren bezogen sich zehn Prozent aller in den Philosophical Transactions veröffentlichten Artikel auf Elektrizität. Und während des letzten Jahrzehnts dieses Jahrhunderts hatten gut 70 Prozent aller Artikel über Elektrizität in der renommierten lateinischen Zeitschrift Commentarii de rebus in scientis naturali et medicina gestis mit ihrer medizinischen Verwendung und ihren Auswirkungen auf Tiere und Menschen zu tun.10

      Trotz aller möglicher Bedenken: Die Schleusen standen weit offen und die Flut der Begeisterung für Elektrizität strömte ungehindert weiter – und sollte dies auch in den kommenden Jahrhunderten tun. Dabei fegte man kurzerhand alle Vorbehalte zur Seite und machte aus Gefahrenschildern sprichwörtlich Kleinholz. So wurden ganze Wissensgebiete zerstört und auf bloße Fußnoten in der Geschichte der Erfindung reduziert.

      KAPITEL 2

      Gehörlose werden hören und Gelähmte werden gehen

      Ein birmanischer Elefant hat die gleichen Gene, egal ob er in einem Holzfällerlager schwere Arbeit leistet oder in freier Wildbahn lebt. Seine DNS gibt uns keine Auskunft über seine Lebensbedingungen. Ebenso sagen Elektronen nichts über die wohl interessantesten Aspekte der Elektrizität aus. Wir haben die Elektrizität – genauso wie Elefanten – dazu benutzt, unsere Lasten zu tragen und große Ladungen zu befördern. Und während wir Elefanten in Gefangenschaft hielten, haben wir auch ihr Verhalten und ihre Eigenschaften mehr oder weniger begriffen. Das darf uns aber nicht zu dem Glauben verleiten, dass wir deshalb das Leben ihrer Verwandten in freier Natur ebenso verstehen.

      Was sind die Ursachen für Donner und Blitz, die dazu führen, dass Wolken elektrisiert werden und sich mit Heftigkeit auf die Erde entladen? Die Wissenschaft ist sich darüber immer noch nicht im Klaren. Warum hat die Erde eigentlich ein Magnetfeld? Was macht gekämmtes Haar kraus oder lässt Nylon haften und Luftballons an Wänden kleben? Gerade beim letzten Beispiel geht es um eines der häufigsten aller elektrischen Phänomene, das aber immer noch nicht vollends verstanden wird. Und wie arbeitet unser Gehirn, wie funktionieren unsere Nerven oder wie kommunizieren unsere Zellen? Wie ist das Wachstum unseres Körpers choreografiert? In dieser Hinsicht ist unser Wissen immer noch sehr begrenzt. Und die in diesem Buch aufgeworfene Frage – „Was sind die Auswirkungen von Elektrizität auf das Leben?“ – stellt die moderne Wissenschaft noch nicht einmal. Das einzige Anliegen der Wissenschaft ist es heute, die Exposition des Menschen unter einem Niveau zu halten, bei dem die Zellen buchstäblich gekocht werden. Über die Auswirkungen nicht tödlicher Elektrizität will die Mainstream-Wissenschaft nichts mehr wissen. Aber im achtzehnten Jahrhundert stellten Wissenschaftler nicht nur die Frage, sondern sie begannen auch, Antworten darauf zu liefern.

      Frühe Reibungsmaschinen konnten auf etwa 10.000 Volt aufgeladen werden. Damit lässt sich ein heftiger Stromschlag auslösen, aber es ist nicht genug, um damals wie heute als gefährlich angesehen zu werden. Zum Vergleich: Eine Person kann beim Gehen über einen synthetischen Teppich 30.000 Volt in ihrem Körper ansammeln. Das Entladen schmerzt, führt aber nicht zum Tod.

      Eine Leidener Flasche von einem halben Liter konnte einen heftigen Stromschlag von etwa 0,1 Joule Energie abgeben. Das ist aber immer noch in etwa hundertmal weniger als das, was als gefährlich gilt, und Tausende Male geringer als Stromschläge, die routinemäßig von Defibrillatoren abgegeben werden, um Menschen bei Herzstillstand wiederzubeleben. Laut der aktuellen Mainstream-Wissenschaft sollten die im 18. Jahrhundert verwendeten Funken, Stromschläge und winzigen Stromstärken keinerlei Auswirkungen auf die Gesundheit gehabt haben. Das war aber nicht der Fall.

      Stellen Sie sich vor, Sie wären ein Patient im Jahr 1750, der an Arthritis leidet. Ihr Elektropraktiker würde Sie auf einen Stuhl mit Glasbeinen setzen, der somit gut vom Boden isoliert ist. Sobald Sie an die Reibungsmaschine angeschlossen sind, soll sich das „elektrische Fluidum“ nämlich in Ihrem Körper sammeln, anstatt sie in die Erde abzuleiten. Je nach der Philosophie Ihres Elektropraktikers, der Schwere Ihrer Erkrankung und Ihrer eigenen Toleranz gegenüber Elektrizität gab es verschiedene Möglichkeiten, Sie zu „elektrisieren“. Das „elektrische Bad“ ist die sanfteste Option. Hier halten Sie einfach eine Stange in der Hand, die mit dem Hauptleiter verbunden ist. Dann wird die Maschine minuten- oder stundenlang kontinuierlich angekurbelt, um deren Ladung auf Ihren ganzen Körper zu übertragen und eine elektrische „Aura“ um Sie herum zu schaffen. Wenn dies sanft genug geschieht, fühlen Sie nichts. Geradeso wie eine Person, die schlurfend über einen Teppich läuft und dabei ganz unbewusst eine Ladung im Körper ansammelt.

      Nachdem Sie auf diese Weise „gebadet“ wurden, wird die Maschine angehalten. Jetzt werden Sie möglicherweise mit dem „elektrischen Wind“ behandelt. Strom entlädt sich am leichtesten aus spitz zulaufenden Leitern. Daher wird ein geerdeter, spitzer Metall- oder Holzstab dicht an Ihr schmerzhaftes Knie geführt. Sie würden wieder kaum etwas verspüren – vielleicht einen kleinen Windhauch – wenn die in Ihrem Körper angesammelte Ladung langsam über Ihr Knie in den geerdeten Stab abfließt.

      Für einen stärkeren Effekt könnte Ihr Elektropraktiker einen Stab mit einem abgerundeten Ende verwenden. Er bringt damit anstelle von kontinuierlichem Strom tatsächliche Funken aus Ihrem kranken Knie hervor. Und wenn Ihr Zustand schwerwiegend sein sollte – zum Beispiel, wenn Ihr Bein gelähmt ist – lädt er möglicherweise eine kleine Leidener Flasche auf und versetzt Ihrem Bein eine Reihe starker Stromschläge.

      Elektrizität war in zwei Empfindungsrichtungen erhältlich: die positive oder „glasartige“ Elektrizität, die durch Reiben von Glas erzeugt wurde, und die negative oder „harzartige“ Elektrizität, die ursprünglich durch Reiben von Schwefel oder verschiedenen Harzen entstand. Ihr Elektropraktiker würde Sie höchstwahrscheinlich mit positiver Elektrizität behandeln, da diese Variante normalerweise auf der Oberfläche eines gesunden Körpers zu finden ist.

      Das Ziel der Elektrotherapie war es, die Gesundheit zu stimulieren, indem das elektrische Gleichgewicht des Körpers ausgeglichen und wiederhergestellt wurde. Die Idee war sicherlich nicht neu. In einem anderen Teil der Welt wurde die Nutzung natürlicher Elektrizität über Jahrtausende hinweg beherrscht und verfeinert. Akupunkturnadeln leiten, wie wir in Kapitel 9 sehen werden, atmosphärische Elektrizität in den Körper. Hier bewegt sie sich auf genau kartierten Pfaden, um dann durch andere Nadeln, die den Kreislauf vervollständigen, in die Atmosphäre zurückzukehren. Im Vergleich mit anderen Regionen steckte die Elektrotherapie in Europa und Amerika noch in den Kinderschuhen, obwohl sie vom Konzept her ähnlich war. Die hierbei

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