Die Welt unter Strom. Arthur Firstenberg
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Nach mehr als einem halben Jahrhundert uneingeschränkter Beliebtheit fiel die Elektrotherapie um 1800 vorübergehend in Ungnade. Grund dafür war eine Reaktion auf bestimmte Kulte. Einer entwickelte sich in Europa um Anton Mesmer und seine sogenannte „magnetische“ Heilung, ein anderer in Amerika um Elisha Perkins und seine „elektrischen“ Traktoren. Das waren ungefähr acht Zentimeter lange Metallstifte, die man über einem kranken Körperteil hin und her bewegte. Weder Mesmer noch Perkins benutzten Magnete oder Elektrizität, aber trotzdem umgab beide Methoden ihretwegen eine Zeit lang ein schlechter Ruf. Gegen Mitte des Jahrhunderts wurde die Elektrizität dann wieder Mainstream, sodass in den 1880er-Jahren 10.000 amerikanische Ärzte ihre Patienten damit behandelten.
Im frühen 20. Jahrhundert fiel die Elektrotherapie dann endgültig in Ungunst. Vielleicht war sie einfach nicht mehr mit dem, was sich seinerzeit auf der Welt abspielte, vereinbar. Elektrizität war keine subtile Kraft mehr, die etwas mit dem Leben zu tun hatte. Sie wurde nunmehr zu einem Dynamo, der fähig war, Lokomotiven anzutreiben und Gefangene hinzurichten. Die Heilung von Patienten trat dabei völlig in den Hintergrund. Die Funken, die von einer Reibungsmaschine anderthalb Jahrhunderte vor der Verdrahtung der Welt abgegeben wurden, riefen jetzt ganz andere Assoziationen als Gesundheit, Medizin und Therapie hervor.
Es besteht kein Zweifel daran, dass mit der Elektrizität sowohl ernsthafte als auch weniger ernste Krankheiten geheilt wurden. Die Erfolgsberichte über fast zwei Jahrhunderte waren zwar manchmal übertrieben, aber sie sind zu zahlreich und oft sehr detailliert und gut belegt, um sie pauschal beiseitezulegen. Sogar im frühen 19. Jahrhundert, als Elektrizität keinen guten Ruf hatte, tauchten weiterhin Berichte auf, die nicht ignoriert werden konnten. Beispielsweise nahm die London Electrical Dispensary zwischen dem 29. September 1793 und dem 4. Juni 1819 insgesamt 8.686 Patienten zur Behandlung mit Elektrizität auf. Von diesen wurden zur Zeit der Entlassung 3.962 als „geheilt“ und weitere 3.308 als „gelindert“ eingestuft. Das entspricht einer Erfolgsquote von 84 Prozent.1
Obwohl das Hauptaugenmerk dieses Kapitels auf den Auswirkungen liegt, die nicht unbedingt vorteilhaft sind, ist es dennoch wichtig, dass wir uns daran erinnern, warum die Gesellschaft des 18. Jahrhunderts genauso von der Elektrizität fasziniert war wie wir heute. Seit fast 300 Jahren neigen wir dazu, ihrem Nutzen nachzujagen und ihre schädlichen Nachteile vom Tisch zu wischen. Aber im 18. und 19. Jahrhundert war der tägliche Gebrauch von Elektrizität in der Medizin eine stetige Erinnerung daran, dass Elektrizität und Biologie eng miteinander verbunden waren. In unserer westlichen Welt steckt die Elektrizität als biologische Wissenschaft immer noch in den Kinderschuhen und ihre erfolgreichen Heilungen sind längst in Vergessenheit geraten. Lassen Sie mich nur eine davon in Erinnerung bringen.
Gehörlose werden hören
1851 wurde der große Neurologe Guillaume Benjamin Duchenne de Boulogne für etwas berühmt, für das er heutzutage am wenigsten bekannt ist. Als renommierte Persönlichkeit in der Geschichte der Medizin war er alles andere als ein bloßer Quacksalber: Er führte moderne Methoden der körperlichen Untersuchung ein, die immer noch angewendet werden. Er war der allererste Arzt, der an einer lebenden Person eine Biopsie zum Zweck einer Diagnose entnahm. Er veröffentlichte die erste klinisch genaue Beschreibung von Polio (Kinderlähmung). Eine Reihe von ihm identifizierter Krankheiten sind nach ihm benannt, insbesondere die Duchenne-Muskeldystrophie. Er ist aufgrund all dessen in Erinnerung geblieben. Aber zu seiner Zeit stand er wegen seiner Arbeit mit Gehörlosen etwas unfreiwillig im Zentrum der Aufmerksamkeit.
Duchenne kannte die Anatomie des Ohrs sehr genau. Tatsächlich bat er einige Gehörlose, sich freiwillig als Probanden für elektrische Experimente zu melden. Er war bestrebt, die Funktion der Chorda tympani, eines sich durch das Mittelohr ziehenden Nervs, näher zu erforschen. Die zufällige und unerwartete Verbesserung des Gehörs der Versuchspersonen führte dazu, dass Duchenne mit Anfragen seitens der Gehörlosen überschwemmt wurde. Sie wollten, dass er sie in Paris behandelte. Das war der Anfang seiner Arbeit mit einer großen Anzahl von Menschen, die aufgrund einer Nervenstörung taub waren. Er verwendete dafür einen für seine Forschung entwickelten Apparat, der genau in den Gehörgang passte und eine stimulierende Elektrode enthielt.
Den heutigen Lesern mag es unwahrscheinlich erscheinen, dass sein Verfahren überhaupt eine Wirkung hatte: Er setzte seine Patienten für jeweils fünf Sekunden Impulsen mit der allerschwächsten Stromstärke im Abstand von einer halben Sekunde aus. Dann erhöhte er allmählich die Stromstärke, jedoch nie auf ein schmerzhaftes Niveau und niemals länger als für jeweils fünf Sekunden. Und so stellte er auf diese Weise innerhalb von wenigen Tage oder Wochen das Hörvermögen eines 26-jährigen Mannes, der seit seinem zehnten Lebensjahr taub war, wieder her. Danach behandelte er einen 21-Jährigen, der wegen Masern im Alter von neun Jahren gehörlos geworden war. Schließlich heilte er auch eine junge Frau, die kurz zuvor aufgrund einer Überdosierung mit Chinin gegen Malaria taub geworden war, sowie zahlreiche andere mit teilweisem oder vollständigem Hörverlust.2
50 Jahre zuvor wurde ein Apotheker namens Johann Sprenger aus Jever in Deutschland aus einem ähnlichen Grund in ganz Europa berühmt. Obgleich ihn der Leiter des Instituts für Gehörlosigkeit in Berlin denunzierte, wurde er von den Gehörlosen selbst mit Bitten auf Behandlung überschwemmt. Seine Ergebnisse wurden in Gerichtsdokumenten bestätigt und seine Methoden wurden von zeitgenössischen Ärzten übernommen. Es wurde berichtet, dass er persönlich das Gehör von wenigstens 40 Gehörlosen und Schwerhörigen vollständig oder teilweise wiederhergestellt hat. Darunter waren einige, die von Geburt an taub waren. Seine Methoden waren, wie die von Duchenne, verblüffend einfach und sanft. Er stellte die Stromstärke je nach Empfindlichkeit seines Patienten schwächer oder stärker ein. Jede Behandlung bestand aus kurzen elektrischen Impulsen, die insgesamt vier Minuten pro Ohr im Abstand von einer Sekunde voneinander entfernt verabreicht wurden. Die Elektrode wurde für eine Minute auf den Tragus (den Knorpellappen vor dem Ohr), für zwei Minuten in den Gehörgang und für eine Minute auf den Mastoid hinter dem Ohr gelegt.
50 Jahre vor Sprenger berichtete der schwedische Arzt Johann Lindhult aus Stockholm von seinen Erfolgen mit der Elektrotherapie. Innerhalb von zwei Monaten stellte er das Gehör von vielen Personen entweder vollständig oder teilweise wieder her: bei einem 57-jährigen Mann, der seit 32 Jahren taub war, einem 22-jährigen Jugendlichen, dessen Hörverlust erst kurz vor der Behandlung aufgetreten war, einem taub geborenen 7-jährigen Mädchen, einem 29-jährigen jungen Mann, der seit seinem 11. Lebensjahr schwerhörig war, und einem Mann mit Hörverlust und Tinnitus im linken Ohr. „Alle Patienten“, schrieb Lindhult, „wurden mit schwachen elektrischen Impulsen behandelt, entweder mit einfachem Strom oder mit ‚elektrischem Wind‘.“ Im Jahr 1752 benutzte Lindhult eine Reibungsmaschine. Ein halbes Jahrhundert später verwendete Sprenger galvanischen Strom aus einem elektrischen Stapel, dem Vorläufer der heutigen Batterie. Wiederum ein halbes Jahrhundert später verwendete Duchenne Wechselstrom aus einer Induktionsspule. Der ebenso erfolgreiche britische Chirurg Michael La Beaume verwendete in den 1810er-Jahren eine Reibungsmaschine und später galvanischen Strom. Ihnen allen war gemein, dass sie darauf bestanden, ihre Behandlungen kurz, einfach und schmerzlos zu halten.
Elektrizität sehen und schmecken
Über den Versuch hinaus, Gehörlosigkeit, Blindheit und andere Krankheiten zu heilen, hatten die ersten Elektropraktiker ein intensives Interesse an der Frage, ob Elektrizität von den fünf Sinnen direkt wahrgenommen werden könnte. Auch das ist ein Phänomen, an dem Ingenieure heutzutage kein Interesse haben und über das unsere heutigen Ärzte nicht viel wissen. Eine Antwort darauf