Nox Arcanum. Asenath Mason
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Um den Begriff des Linkshändigen Pfades zu klären, müssen wir das Terrain des Christentums verlassen und uns mit einem weitaus komplexeren religiösen Konzept befassen: Dem Hinduismus. Der traditionelle Hinduismus predigt die Askese und die Abstinenz als Pfad zur Weisheit und gibt eine Vielzahl von Regeln und Anleitungen zur Reinigung und Selbstkasteiung vor. Dies ist der Pfad der Rechten Hand; der Weg der Ordnung. Der Anhänger des Rechten Pfades verneint und verteufelt die Erde und das irdische Dasein; er sehnt sich nach der Auslöschung seines Egos, will dieses mit der großen Leere vereinen, um das Leid, welches jegliches menschliches Dasein verkörpert, zu beenden. Der Anhänger des Linken Pfades bindet sich an die Erde und zelebriert sein fleischliches Dasein. Je nach Paradigma glaubt er an eine irdische Existenz, aus der es alles herauszuholen und auszuschöpfen gilt, oder an die Wiedergeburt, bei der er sich für immer an die Erde bindet. Das Fleisch, dem sich der Asket zu entziehen versucht, ist das Herz und das Ziel des Anhängers des Linken Pfades. Der Rausch der Ekstase wird der Stille der Meditation vorgezogen. Anhängern des Rechten Pfades ist beispielsweise der Genuss von Fleisch, Fisch und Alkohol verboten, während sie im Linken Pfad fester Bestandteil des Kultes sind.
In Zeiten, in denen heute selbstverständliche Zivilisationsgüter undenkbar waren, wischte man sich nach der Ausscheidung von Kot das Gesäß mit der linken Hand ab, um das Essen, welches mit der rechten Hand eingenommen wurde, rein und sauber zu halten. In dieser simplen und leicht unappetitlichen Tatsache liegt die Wurzel des Begriffes des „Pfades von der Linken Hand“. Das Linke gilt als Unrein. Als böse und teuflisch wird es verfemt; sprachlich hat sich über die Jahrhunderte hin ein Dualismus etabliert, der im Deutschen besonders stark zum Ausdruck kommt. Doch auch im Englischen schlägt sich diese Negativbehaftung unter anderem in dem Begriff „sinister“ nieder, der so viel wie „finster/düster“ bedeutet und vom Lateinischen „sinistra“ abstammt, was nichts anderes als „links“ bedeutet. Noch in den achtziger Jahren unseres Jahrhunderts war es üblich, linkshändigen Kindern gewaltsam den Gebrauch der rechten Hand anzutrainieren. Diese völlig sinnlose und dumme Maßnahme ist symbolisch und prägnant für die unbewusste Angst vor dem „Linken“; vor dem, was anders ist und sich abseits der gesellschaftlich akzeptierten Norm bewegt.
Die rechte Seite wird traditionell mit dem Guten assoziiert, sie steht für Ordnung, für das uns Vertraute und Bekannte, das Licht und die Vernunft, für Sicherheit und Ratio. Sie repräsentiert den Weg, den unzählige vor uns bereits beschritten haben und von dem allgemein angenommen wird, dass es „natürlich„ ist, ihn zu betreten.
Die linke Seite hingegen steht für das (vermeintlich) Böse, für das Chaos, für alles Unbekannte, die Dunkelheit, den Instinkt und die Gefahr. Es ist jener Weg, vor dem wir immer gewarnt werden, da er durch unbekanntes und gefährliches Terrain führt.
Der Vama Marg entzieht sich jedoch einer moralischen und ethischen Diskussion im allgemeinen; er kann nicht im Vorfeld als „böse“ oder „verwerflich“ abgestempelt werden, denn zunächst ist er nicht mehr als ein Bekenntnis zum fleischlichen und irdischen Dasein. Zu Verirrungen, die wir aus unserer Perspektive als ethisch für nicht vertretbar erachten, kann es auf jedem Pfad kommen. Der schlechte Ruf des Vama Marg wurzelt in seiner Verweigerungshaltung vor göttlichen Autoritäten und deren Stellvertretern; er ist in dem Sinne durchaus anarchisch und im wahrsten Sinne des Wortes individualistisch. Für einen Anhänger göttlicher Ordnung stellt sich eine derartige Ignoranz gegenüber der Schöpfung und der Allmacht Gottes als verwerflichste Blasphemie dar; damals ebenso wie heute. Die organisierte Religion bietet den Gläubigen Mittler und Wegweiser auf ihrer spirituellen Suche an, der direkte Kontakt zum Göttlichen wird jedoch unterbunden. Ein direkter Kontakt würde die bestehende Ordnung zerbersten und die Macht der organisierten Religion sprengen. Der Anhänger des Linken Pfades sucht diesen Kontakt. Er fristet daher auch in den meisten Kulturkreisen ein Leben als Eremit; er mag im vereinzelten Austausch mit anderen stehen, lebt seine Religiosität jedoch primär für sich.
Vama bedeutet zudem soviel wie „Frau„; weitere Assoziationen sind der Mond und, wie sollte es anders sein, die Erde. Die Energien des Vama Marg sind chthonischer Natur; daher wird die Erde des Vama Marg auch nicht von der Sonne, sondern vielmehr vom Licht des Mondes befruchtet. Übersetzen wir Vama Marg mit „Weg der Frau„, so steht dies für eine archaische Vereinigung des Individuums mit der (Erd)Göttin. Diese Vereinigung besitzt einen gleichermaßen symbolischen, rituellen und spirituellen Charakter. Die Symbolebene wurde bereits eingangs erklärt, das Ritualelement wird unter anderem durch die sexuellen tantrischen Elemente verkörpert, während die spirituelle Komponente wiederum den Schwur und das Bekenntnis zur Erde bedeutet (also die Vereinigung mit der Erdgöttin).
Der Linkshändige Pfad vollzieht sich zumeist abseits der gesellschaftlich-religiösen Ordnung; er entwickelt sich quasi entgegengesetzt zur populären spirituellen Strömung. Die Inhalte des Vama Marg sind daher nicht zwingend traditioneller Natur, sondern vielmehr wird mit der gesellschaftlichen Akzeptanz einer Strömung der Nährboden für ihren linkshändigen Schatten vorbereitet. Die Saat des linkshändigen Pfades keimt auf in jeder religiösen Strömung, denn die Existenz des einen ist die Voraussetzung für die Geburt des anderen. Während die Primärströmung zur Massenkompatibilität eine grundlegende Schlichtheit besitzen muss, um von der Masse anerkannt zu werden, so reifen die Sekundärströmungen zumeist in kleinen Gruppierungen und Bewegungen. Die Struktur der Sekundärströmung ist zumeist vielschichtiger und fordert den Gläubigen sowohl auf der theoretischen als auch auf der praktischen Ebene. Die Primärströmung hält für den durchschnittlich spirituell aktiven Menschen eine Auswahl an Lebensweisheiten und Regeln bereit, während der anspruchsvollere Anhänger des rechtshändigen Pfades diese Regeln detailliert untermauert, dabei jedoch das bereits vorgegebene Dogma nicht unterlaufen kann. Tut er dies dennoch, so wird er sich dem Verdacht aussetzen, dem Linkshändigen Pfad zu folgen. Die Primärströmung kann sich nur dadurch am Leben erhalten, dass sie nicht angezweifelt und nicht zu komplex wird, da dies den Glauben der Masse, welcher die Voraussetzung für den Machterhalt ist, schwächen würde. Dies würde letztendlich zum Untergang der Strömung führen. Diese Gebundenheit an das Dogma ist eine tragikomische Facette des Glaubens, bedenken wir beispielsweise die Folgen der Inquisition. Selbst die abgrundtief lächerlichsten Anschuldigungen wurden über Jahrhunderte aufrechterhalten, da auch nur ein ansatzweise geäußertes Schuldeingeständnis den Machtverlust zur Folge gehabt hätte. Der Linkshändige Pfad hat mit derartigen Strukturen keine Probleme, da es diese schlichtweg nicht gibt. Der Rechtshändige Pfad ist an das Kollektiv gebunden, der Linkshändige Pfad an das Individuum selbst. Der Vama Marg kennt kein Rechtfertigen vor göttlichen Instanzen oder deren Stellvertretern auf Erden, da der Praktizierende diese Rollen selbst einnimmt. Dass in dieser Grenzenlosigkeit oder, wenn man so will, äußeren Gottlosigkeit, auch eine gewisse Gefahr für das Individuum und dessen Umfeld lauern kann, versteht sich von selbst. Doch letztendlich ist diese Gefahr geringer als bei der Primärströmung, da der Linkshändige Pfad die Moralinstanzen in sich selbst, und nicht bei externen Göttern oder Autoritäten sucht. Dass dieser Weg letztendlich ein höheres Maß an Verantwortung für sich und seine Umwelt hervorbringt, zeigt uns die Geschichte anhand zahlreicher Beispiele.
Aspekte des Linkshändigen Pfades finden sich in zahlreichen religiösen und esoterischen Strömungen. Auch die bekannteste Spielart der Esoterik, die Kabbala, verfügt über eine Schattenseite. Sie stellt den Lebensbaum Otz Chiim, die zentrale Glyphe der kabbalistischen Lehre, auf den Kopf und tauft ihn Ha-Ilan Ha-Izon: Baum des Schattens. Anstelle der Sephiroth, welche den Weg der göttlichen Schöpfung vom grenzenlosen Licht hin zur materiellen Erde versinnbildlichen, treffen wir am Baum des Schattens auf die Qliphoth. Die Qliphoth stellen die Schattenseiten der Sephiroth dar und stehen für die lichten Aspekte in ihrem Zustand vor der Schöpfung. Sie sind sozusagen die pränatalen Sephiroth; die sich in einem kreativen Chaos befinden. Das Bewusstsein des linkshändigen Kabbalisten wird also in den Zustand vor der Schöpfung