Bärenfang. C. Verhein

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Bärenfang - C. Verhein

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Sommer 1944 erlebte ich als Zwölfjähriger mit meinem achtjährigen Bruder Frank in Krettingen, früher Crottingen, im nördlichen Memelland, ohne wesentliche Kriegseinwirkungen, obwohl die Front keine zweihundert Kilometer entfernt war.

      Diese Kleinstadt lag unmittelbar an der deutsch-russischen oder litauischen Grenze. Jenseits der Grenze gab es das russische Crottingen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde aus Krettingen das litauische Kretinga.

      Während der Eroberung Polens und solange es beim Überfall auf die Sowjetunion vorwärts ging lagen wir abseits der großen militärischen Vorgänge. Abgesehen von wenigen Einschränkungen verlief unser Leben wie in tiefsten Friedenszeiten.

      Das sollte sich aber bald ändern!

      Vater unterhielt als Landarzt, Dr. Wilhelm Mauruschat, eine Praxis im Stadtzentrum, unweit des Marktes dieser Kleinstadt. In dem großen zweigeschossigen Haus mit einem weithin leuchtenden Ziegeldach befand sich über der Praxis im Erdgeschoss unsere geräumige Wohnung. Seitlich des Hauses führte eine mit Kopfsteinen gepflasterte Einfahrt auf den Hof des Grundstückes, wo sich der Pferdestall und daneben die Garage befand, in der zu Friedenszeiten Vaters Auto stand, mit dem er seine Krankenbesuche über Land machte.

      Nachdem der Wagen im Krieg eingezogen wurde, diente die ehemalige Garage als Remise für den einachsigen Dogcart1. Mit solch einem Gespann machte Vater jetzt seine Krankenbesuche über Land.

      Über dem Pferdestall wurden Stroh und Heu gelagert. Von Zeit zu Zeit wurde in einer Kammer neben dem Pferdestall mit einer Maschine Stroh zu Häckel geschnitten. Für uns Kinder war das ein beeindruckender Vorgang, wenn das große Schneidrad durch eine Kurbel in Bewegung gesetzt wurde und das lang faserige Stroh wie Späne zu Boden fiel. Selbstverständlich durften wir Kinder diese gefährliche Maschine nur von weitem betrachten. Ansonsten wurden wir mit allem rund um das Pferd vertraut.

      Genau so interessant waren für uns die Praxisräume, die wir aber außer den Sprechzeiten und erst recht nicht während der Sprechstunde betreten durften. Vater wurde ganz streng, wenn er erfuhr, dass wir in seiner Abwesenheit in den Praxisräumen gewesen waren. Eine Ausnahme machte er jedoch, wenn wir an Wochenenden unsere Eisenbahn im Wartezimmer aufbauen wollten. Wenn er dann nach Hause kam und uns mit anderen Kindern auf dem Fußboden liegend im Wartezimmer, inmitten der Eisenbahn, fand, siegte in ihm seine Begeisterung für das „Dampfross auf Rädern“.

      Eine strikte Teilung in Dienst- und Freizeit gab es für den Landarzt nicht. So gesehen war er immer im Dienst, denn eine Geburt, ein schwerer Unfall oder andere, plötzlich auftretende starke Schmerzen fragen nicht nach Dienst- oder Freizeit, nach Tag oder Nacht oder Feiertag. Für seine Patienten war Vater immer da, und das wussten und schätzten seine Patienten an ihm.

      Neben einer Krankenschwester half Mutter in der Praxis.

      Während des Krieges kamen auch Kriegsgefangene als Patienten, unter anderem Franzosen, Italiener, Holländer, Belgier, Polen und Russen, Menschen aus vielen Ländern Europas, die von deutschen Truppen besetzt waren. Die Gefangenen arbeiteten in der Landwirtschaft, beim Be- und Entladen auf dem Bahnhof oder überall dort, wo deutsche Arbeitskräfte fehlten, die für den Krieg eingezogen wurden.

      Holländer und Franzosen waren unsere besonderen Freunde. Uns Kindern schenkten sie manchmal Schokolade, welche sie aus den tiefen Taschen ihrer braunen Militärmäntel zogen. Anfangs waren wir misstrauisch, denn in der Kriegszeit wussten wir zunächst überhaupt nicht, was Schokolade war.

      Vater sah es nicht gerne, wenn wir von den Gefangenen Süßigkeiten bekamen, denn fanatische Nazis machten daraus eine Anzeige. In deren Augen war es für einen „guten“ Deutschen unter aller Würde, von einem Gefangenen etwas anzunehmen, aber erst recht nicht, zu geben.

      Erst später erfuhr ich, dass gefangene Holländer und Franzosen Hilfspakete vom Roten Kreuz erhielten und den Inhalt meistens auch behalten durften.

      Unsere Eltern hatten uns besorgt den Ernst der Lage erklärt, dass die Front, an der erbittert gekämpft wurde, allmählich keine einhundert Kilometer mehr entfernt sei.

      Den näher kommenden Krieg spürten wir unter anderem daran, dass Verwundetentransporte durch die Stadt zunahmen und selbst in unserer unmittelbaren Umgebung ein Lazarett eingerichtet wurde.

      Während früher in den Ferien die Klassenzimmer für Schulkinder aus den Großstädten des Reiches vorübergehend geräumt wurden, kam jetzt eine Schule nach der anderen für militärische Zwecke in Betracht und der Unterricht fiel aus.

      Gern erinnere ich mich an das bunte Markttreiben in unserer Kleinstadt, das jeden Sonnabend im Zentrum von Krettingen organisiert wurde. Bedingt durch das Nationalitätengewirr der nahen Grenze, waren die Angebote auf dem Markt unheimlich interessant und vielseitig. Da kamen neben den Einheimischen auch Polen, Litauer, Russen, Letten und boten an, was sie auch nur bis hierher transportieren konnten.

      Neben Obst und Gemüse, Fleisch, Fisch, Pilzen, Honig, Kleinvieh, Hunden und Pferden wurden wertvolle Holzarbeiten und sogar Möbel angeboten, nicht zu vergessen, der Bernstein.

      Straßenmusiker schoben sich mit „Fiedel und Quetschkommode“ durch die engen Gassen der aufgebauten Stände und sorgten für die auf dem Markt so typische Atmosphäre. Oft waren die Passagen so eng, dass sich die Vordächer der Stände fast berührten, so dass kaum noch Licht auf die Auslagen fiel, was vielleicht sogar beabsichtigt war. Dazwischen duftete Essen und Trinken verführerisch.

      Dieses Markttreiben zog natürlich auch Leute an, die fahrend durchs Land zogen und allzu viel Licht scheuten, vor denen man sich besser in Acht nahm. Großmutter gab immer den Rat: “Saite auf der Hut, jestohlen wird heite überall und haltet eier Jeld zusammen.“ Trotz alledem, oder gerade deshalb, die Besuche des Marktes blieben mir unvergessen.

      Mein Bruder und ich verbrachten eine sorglose Kindheit und hatten neben der Schule viel Freizeit.

      Unvergessen und in lebendiger Erinnerung bleiben mir auch die Feste in der Familie, wie Geburtstage, Weihnachten und Ostern. Wenn bei solchen Anlässen nicht die Großeltern und Tanten zu Besuch waren, fehlte etwas.

      Unterstützt von der Großmutter gab sich Mutter die größte Mühe, die Feste für alle Beteiligten zu einem besonderen Erlebnis zu machen, in dem sie für das leibliche Wohl sorgte, was wir Kinder damals noch gar nicht richtig wahrnahmen und würdigen konnten. Wenn am Abend die Gäste gegangen waren, hörte ich, wenn Vater die Mutter in die Arme nahm und sich bei ihr für den schönen Tag bedankte. An solchen Festtagen hatte sie die Hauptlast zu tragen, während die Familie und der Besuch diesen Tag voll genießen konnten.

      Erst als ich älter wurde, merkte ich, dass der Weihnachtsmann der verkleidete Großvater war, denn es fiel mir allmählich auf, dass dieser bei der Bescherung niemals zugegen war.

      Auch Ostern gab es Merkwürdigkeiten, die mir früher nicht aufgefallen sind. Bei diesem Fest wurden die Ostereier im nahe gelegenen Auwald versteckt, durch den ein kleiner Bach in kurzen Windungen seinen Weg suchte. An diesem Ostereiersuchen nahmen die ganze Familie und auch die Gäste teil. Je mehr Menschen anwesend waren, umso undurchsichtiger wurde Vaters Trick.

      Er trug immer den Korb, in den wir Kinder die gefundenen und von ihm vorher versteckten Ostereier und Süßigkeiten legten. Ich hatte bald bemerkt, dass Vater die Ostereier versteckte und nicht der Osterhase. Um die Osterbescherung nicht zu gefährden, ließ ich ihm aber die Freude zu glauben, wir Kinder hätten das nicht gewusst.

      Was wir bei der Prozedur nicht bemerkten war, dass er in einem Augenblick, in dem er sich unbeobachtet fühlte, die von uns bereits gefundenen Ostereier aus dem Korb erneut versteckte. In der

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