Bärenfang. C. Verhein

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Bärenfang - C. Verhein

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schlechtes Wetter den Osterspaziergang verhinderte, musste alles im Haus stattfinden. Höhepunkt war ein lebendiges Kaninchen, welches vom Nachbarn ausgeliehen, durch das Wohnzimmer hoppelte und einen riesigen Spaß bereitete. Uns Kindern wurde dann erzählt, dass dieser Osterhase für das Verstecken der Ostereier zuständig sei. Nur Mutter bangte um ihren Teppich, denn der falsche Osterhase könnte ja auch etwas verlieren, was nicht gerade mit Ostern im Zusammenhang stand.

      Ähnlich wie zu Weihnachten musste ich als der Ältere vor dem Ostereiersuchen, Goethes Osterspaziergang aufsagen und ich kann ihn heute noch auswendig vortragen, weil er auf diese Weise alle Jahre wieder geprobt wurde. Bei den Tanten erntete ich dafür viel Lob und Beifall für meinen Vortrag.

      „Nichts gibt es umsonst“, waren meine stillen Gedanken.

      So oft es ging, begleiteten wir den Vater bei seinen ausgedehnten Krankenbesuchen im Landkreis und darüber hinaus. Sein Tätigkeitsfeld erstreckte sich bis über die damalige Reichsgrenze hinaus. Im kleinen Grenzverkehr machte er keinen Unterschied zwischen Deutschen, Litauern und Russen.

      Für seine Hausbesuche hatte Vater den einspännigen Dogcart, der von der umgänglichen und sanften Stute Lajana gezogen wurde, denn das Auto, welches sonst für diesen Zweck bereitstand, konnte in Folge des Krieges schon lange nicht mehr benutzt werden. Lajana brachte Vater bei Wind und Wetter, Sommer wie Winter sicher ans Ziel und wieder nach Hause.

      Gerade im Winter und davon gab es im äußersten Norden Deutschlands, hier im Memelland, harte Kostproben. Wo das Auto schon längst streikte, war keine Schneeschanze für sein Gespann zu hoch. Diese Überlandfahrten machte Vater an zwei Tagen in der Woche.

      Wenn wir Jungs ihn begleiteten, übernahm ich das Kutschieren. Meinen kleineren Bruder Frank nahmen wir in die Mitte. Hinter der Sitzbank befand sich ein Kasten mit einer verschließbaren Klappe, in dem die Tasche mit den Instrumenten und Medikamenten stand.

      Auf der Rückfahrt hatte dieser Kasten meistens noch eine andere sehr wichtige Funktion. Dort hinein wanderten allerlei Lebensmittel, wie Eier, eine Milchkanne, ganze Hähnchen und Enten sowie Gemüse aller Art. In der Landpraxis war es üblich, wenn möglich, mit Naturalien zu bezahlen und in der Kriegszeit, als die Lebensmittel immer knapper wurden, war das sehr willkommen.

      Um von der Landbevölkerung anerkannt zu werden, musste ein Arzt deren Sprache sprechen. Vater beherrschte nicht nur den ostpreußischen Dialekt, sondern er konnte auch Litauisch und Russisch, selbst die alte Sprache der Kuhren verstand er.

      Oft bat man ihn nach der Behandlung eines Patienten auch nach kranken Schweinen und Kühen zu sehen. Nicht selten konnte er in solchen Fällen auch helfen. Nur gut, dass die Anforderung nicht umgekehrt war und Vater wäre Tierarzt gewesen. Als solcher wäre es weit schwieriger gewesen, kranken Menschen zu helfen.

      Der Landarzt war dort nicht nur für physische Krankheiten zuständig. Die Leute vertrauten ihm so, dass er auch in vielen anderen Dingen zu Rate gezogen wurde. Er war für die Menschen auf dem Lande nicht nur eine Vertrauensperson als Arzt, sondern auch Pastor, Berater für Finanz-, Versicherungs-, Steuerfragen und andere Dinge. Selbst bei Ehekonflikten wurde er zu Rate gezogen. Dementsprechend lange dauerte auch immer der einzelne Patientenbesuch und wir Jungs mussten vor der Tür auf ihn warten.

      Das war selten langweilig, denn meistens waren wir bei Bauern auf dem Hof und da gab es viel Interessantes zu beobachten. Beim Füttern und Melken konnten wir zusehen. Außerdem konnten wir miterleben, wie eine Kuh kalbte, wie Pferde beschlagen und wie ein Schwein geschlachtet wurde. Bei Letzterem verschwand Frank lieber und ließ sich erst wieder blicken, wenn das Schwein an der Leiter hing.

      Wenn Vater zu Hause Sprechstunde machte, graste Lajana auf der Weide neben dem Haus. An solchen Tagen übten wir Jungs reiten und Lajana ließ alles über sich ergehen.

      Uns fehlte zwar die richtige Reitausrüstung, aber eine zusammengeschlagene, mit einem Gurt auf dem Pferderücken verzurrte Decke tat es auch. Am schwierigsten war das Trab-Reiten, denn auf dem Pferderücken ohne Sattel und Steigbügel hoppelte man von einer Seite zur anderen. Kam das Pferd erst in den Galopp, saß man wie in einem Sessel.

      Im Laufe der Zeit lernten ich und auch mein kleinerer Bruder perfekt Reiten. Wir lernten mit Pferden umzugehen, das Füttern, Striegeln und selbstverständlich auch das Ausmisten. Alle diese Kenntnisse sollten uns später noch von großem Nutzen sein.

      So oft es möglich war, aber vor allem in den Ferien, besuchten wir die Großeltern in Nimmersatt oder Nimereseta, wie die Litauer es nannten. „Nimmersatt – wo das Reich ein Ende hat“, so spottete man gern über diesen Namen der nördlichsten Ortschaft im damaligen Deutschen Reich.

      Gleich am Ortsrand war die russische oder die litauische Grenze. Zwei große nicht zu übersehende Grenzsteine kennzeichneten früher den Grenzverlauf. Sie ragten wie zwei Obelisken aus der Landschaft.

       Diese Grenze war die stabilste und langzeitigste Grenze in Europa. Über siebenhundert Jahre gab es hier keine Grenzveränderungen. Das Memelland war wie ganz Ostpreußen ein Einwanderungsland für politisch – und des Glaubens wegen verfolgter Menschen aus vielen Ländern wie Holland, Litauen, Österreich und Russland Es gab dort evangelische und katholische Kirchen sowie jüdische Synagogen und andere Gotteshäuser. In Preußen herrschte, entsprechend der Politik Friedrich des Großen, Glaubensfreiheit. „Jeder möge nach seiner Fasson glücklich werden“, hatte Friedrich erklärt und zum obersten Gebot erhoben. Nimmersatt an der Ostseeküste des Memellandes war erst am Anfang seiner Entwicklung als bescheidener Badeort und erhielt dadurch einen gewissen Auftrieb. Die Landwirtschaft konnte die Bevölkerung auf diesem kargen Boden kaum ernähren. So ist wahrscheinlich auch einmal dieser Ortsname entstanden. Außer dem Kur- und Zollhaus gab es nur wenige, bescheidene Holzhäuser. Hinter den Dünen verlief die Straße, die von Deutschland nach Russland oder Litauen über den dortigen Grenzübergang führte. Zu Friedenszeiten passierten Fußgänger und Fahrzeuge im kleinen Grenzverkehr unbeschwert die Grenze. Festgelegt im Versager2 Vertrag, wurde das Memelland 1918 von den Franzosen besetzt. 1923 überließen die Franzosen den Litauern bei Nacht und Nebel dieses Gebiet. Selbst im Potsdamer Abkommen soll nichts über den Verbleib des Memellandes nach 1945 festgelegt worden sein. Theoretisch untersteht dieses Gebiet immer noch dem Völkerbund, also der UNO. Nach der Besetzung wurde zwar Litauen auferlegt, diesem Gebiet eine Autonomie zuzuerkennen, was aber auch nicht verwirklicht wurde.

      Nimmersatt lag nur wenige Kilometer von Krettingen entfernt und war für uns Jungs schnell mit dem Fahrrad zu erreichen. Insbesondere bei gutem Wetter nutzten wir jede Gelegenheit, um bei den Großeltern und am Strand zu sein.

      Die Oma und der Opa waren hier geboren und die Großmutter sprach einen ausgeprägten ostpreußischen Dialekt. Ihr bescheidenes, in den zwanziger Jahren selbst erbautes, Holzhaus war nicht das Schloss am Meer, aber gerade weil sie es sich unter großen Anstrengungen und Entbehrungen erbaut hatten und viele glückliche Jahre dort verlebt hatten, hingen sie ganz besonders an diesem Domizil.

      Entsprechend der dortigen Tradition hatten sie ein Holzhaus gebaut und an der Ostsee, selbstverständlich mit einem Rohrdach3. Großvater bestand immer auf diese Bezeichnung, denn das Dach war nicht aus Reetgras, wie in der Lüneburger Heide üblich, oder aus Roggenstroh, das als ärmste Dacheindeckung galt. Seeseitig schmückte eine große Dachgaube4, auch „Ochsenauge“ genannt, das Haus.

      Wenn wir Jungs an den Wochenenden oder in den Ferien bei den Großeltern waren, hatten wir das dahinter liegende Zimmer, mit Blick auf die Ostsee, ganz für uns. Besonders abends, wenn es dunkel geworden war, konnten wir an Hand der Lichter den Schiffsverkehr auf der Ostsee verfolgen. Wir stellten uns vor, an Bord eines alten Postdampfers auf der Fahrt von Petersburg nach Hamburg zu sein. Natürlich war ich als der Ältere der Kapitän und Frank der Bootsjunge, der wegen guter Führung im Dienst

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