Nach Verdun. Jan Eik
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Ja, sie hatte ihn, und er war stolz darauf. Das Problem war nur, dass sie noch in der Kochstube bei ihren Eltern in der Marienburger Straße wohnte und er bei der gestrengen Frau Knippenhain. Jetzt, wo es wärmer wurde, konnte er vielleicht die halbfertige Laube zu einem gemütlichen Nest ausbauen, aber in der kalten Jahreszeit war ihnen nur gelegentlich das spärlich möblierte Zimmer von Bettis Freundin Lotte geblieben, deren Wirtin gegen ein geringes Entgelt männliche Besucher ihrer Untermieterinnen großzügig übersah. Charlotte Naujoks arbeitete seit kurzem ebenfalls bei Klaucke &
Kutzner, ein dralles, mitunter etwas grell angemaltes Mädchen mit einem bemerkenswerten Hinterteil und aufreizendem Wesen. Nett anzusehen, aber kein Vergleich mit Betti Boretzki.
Wie hübsch und aufreizend seine Betti auch auf andere Männer wirkte, hatte Karl Nassmacher vor gut sechs Wochen zu spüren bekommen, als der plattfüßige Kutzner eines Vormittags plötzlich mit einem Offizier an seiner Seite in den Niederungen der Kabelfertigung aufgetaucht und herumgeschlendert war. Der Oberleutnant - so weit kannte sich Karl in der militärischen Rangordnung aus - durchschritt die Halle, als wate er knietief in Exkrementen, und seine Miene verriet höchsten Widerwillen. Erst als er Bettis ansichtig wurde, hellte sich sein narbiges Gesicht ein wenig auf. Leutselig und von Karl aus einiger Entfernung misstrauisch beäugt, näherte er sich der jungen Frau und setzte zu einem Gespräch an.
Betti, als hätte sie ihn gar nicht wahrgenommen, fuhrwerkte gekonnt in dem Gesträuch der Kabellitzen herum und wandte sich ihm erst zu, als der Oberleutnant sie vertraulich an die Schulter fasste. Im nächsten Augenblick war es auch schon zu spät. Die Maschine gab stotternde Knurrlaute von sich, würgte noch einen Augenblick an den Drähten und blieb stehen. Schlappend lief der Treibriemen leer.
«Sie dürfen mir hier nich ablenken!», fuhr Betti den erschrockenen Offizier an. «Jetz ham wa den Kabelsalat!»
Höchste Zeit für Karl Nassmacher einzugreifen. Natürlich nicht ohne diesem dämlichen Oberleutnant einen verächtlichen Blick zu gönnen.
Damit hatte alles Unglück angefangen.
Wie sich herausstellte, handelte es sich bei dem Offizier um Kutzners leibhaftigen Schwiegersohn, mit einem Heimatschuss soeben siegreich aus dem Felde heimgekehrt und vom Herrn Direktor als sein unmittelbarer Vertreter inthronisiert, «um den ganzen Laden mal richtig auf Vordermann zu bringen!», wie der Herr von Zabelsdorff sich auszudrücken beliebte. Er verstand zwar nichts von Elektrizität, von Kabeln oder Guttapercha-Ersatzstoffen, aber er gedachte, die Firma gründlich umzukrempeln und die Kabelproduktion erheblich zu steigern.
«Sie haben ja keine Ahnung, wie wichtig diese Kabel und Drähte draußen im Felde sind!», pflegte er etwa dreimal stündlich zu behaupten, verknüpft mit einem unpassenden Beispiel aus dem Schützengraben, das jeder in der Halle bald mitsingen konnte, gipfelnd in der Bemerkung: «Unsere Munition - das sind diese Kabel!» Von denen von Zabelsdorff allerdings nie eines auch nur mit dem kleinen Finger berührte. Der teerige Ersatzstoff für die Isolation hinterließ bleibende Flecke.
Karl Nassmacher hielt sich auf Wasikowskys Rat hin zunächst einmal zurück im Umgang mit dem forschen Herrn von von Zabelsdorff. Aber der Alte geriet schnell genug selber mit ihm aneinander, als von Zabelsdorff versuchte, ihn über Stand und Zustand deutscher Technik zu belehren. Darauf reagierte der Alte empfindlich. Und ebenso empfindlich auf von Zabelsdorffs Befehl, das Tempo der Dampfmaschine und damit aller angeschlossenen Maschinen und Aggregate zu erhöhen. Gegen Wasikowskys ausdrücklichen Willen hatte Kutzner die übliche jährliche Inspektion des schnaufenden Ungeheuers aus Manchester im letzten Jahr zwischen Weihnachten und Neujahr versäumen lassen, und nun, Ende April, begannen die ersten Lager zu schlagen, und eine Welle lief hörbar unrund.
Von Zabelsdorff gab dem alten Meister die Schuld. Er tönte von Unfähigkeit und Zersetzung an der Heimatfront, von alten Knackern, die nicht vom Siegeswillen angesteckt seien und nichts von Maschinen verstünden.
Wasikowsky blieb ihm nichts schuldig, und Karl Nassmacher fühlte sich verpflichtet, seinem so ungerecht beurteilten Förderer beizuspringen.
Das brachte von Zabelsdorff erst recht in Harnisch. Von sozialistischem Gesindel war da plötzlich die Rede, von Drückebergern und Simulanten, die sich dem heldischen Kampf einer ganzen Nation zu entziehen verstanden, was er, Oberleutnant Arndt von Zabelsdorff, nicht länger hinzunehmen geneigt sei. Und ebenso wenig die Gewerkschaftsumtriebe in einem Unternehmen von nationaler und möglicherweise kriegsentscheidender Bedeutung.
Da hatte also jemand geplaudert. Vor Kutzner hatten sie ihre Parteizugehörigkeit zwar nicht direkt geheim gehalten, aber der hatte sich um derlei nie geschert. Auf der gemeinsamen Heimfahrt hatten Nassmacher und der gar nicht zu beruhigende Wasikowsky zum ersten Mal seit langer Zeit mehr als zehn Worte miteinander gewechselt. Ein Ausweg, sich dieses Ekels von Zabelsdorff zu entledigen, war ihnen nicht eingefallen.
Als Wasikowsky am nächsten Morgen nicht wie gewohnt vor der Haustür wartete, war Karl im Hinterhaus bis in den dritten Stock gestiegen, wo er auf die weinende Minna Wasikowsky traf. Ihr Mann hatte sich die ganze Nacht über unruhig herumgequält und sich immer wieder im Bett aufgerichtet, um seinen linken Arm zu massieren. Gegen Morgen war er dann plötzlich mit einem lauten Stöhnen in die Kissen zurückgesunken. Vor einer Viertelstunde hatte der Arzt den Tod festgestellt. Erschüttert stand Karl neben der Leiche des Mannes, dem er so viel verdankte, und Wut stieg in ihm auf, als er an den Verursacher dieses Unglücks dachte. Der sollte ihn kennenlernen!
Von Zabelsdorff reagierte wie erwartet auf die Todesnachricht. In seinem gläsernen Kabuff, das er sich in erhöhter Position in der Hallenmitte hatte aufbauen lassen, nahm er Nassmachers grimmigen Rapport nahezu ungerührt entgegen. «An der Heimatfront gefallen», sagte er nüchtern. «Ich habe viele Männer sterben sehen, darunter bessere als ihn.»
Am liebsten hätte ihm Karl ins Gesicht geschlagen. Doch er bezwang sich und kehrte von Zabelsdorff wortlos den Rücken.
Der rief ihn zurück. «Ich habe ein Auge auf Sie, Nassmacher!», meinte er mit einem drohenden Unterton. «Und wenn Sie glauben, dass Sie jetzt den großen Maxen spielen können, dann irren Sie sich gewaltig. Hier bin ich der Befehlshaber. Und Sie sind allenfalls ein Armierungssoldat. Einer, den ich morgen an die Front schicken kann, wenn es mir beliebt. Daran sollten Sie immer denken! Es gibt Ärzte, die einen Simulanten mal etwas gründlicher untersuchen. Und es gibt Kräfte, die sich lebhaft für politische Unruhestifter in der kriegswichtigen Industrie interessieren. Das sollten Sie niemals vergessen, Nassmacher!»
Auch das hatte Karl schweigend über sich ergehen lassen. Nur als ihn von Zabelsdorff noch einmal zurückpfiff, um ihm mit einem maliziösen Lächeln mitzuteilen, dass er künftig keinerlei Vertraulichkeiten zwischen dem offiziell nie bestätigten Vorarbeiter und den Arbeiterinnen an den Maschinen dulden würde, entgegnete Karl mit vor Wut trockener Kehle: «Fräulein Boretzki ist meine Verlobte!»
Von Zabelsdorff grinste verkniffen. «So? Das haben Sie aber bisher geheim gehalten, wie? Und Ringe tragen Sie auch nicht.»
«Bei der Arbeit an Maschinen trägt man keine Ringe», sagte Karl kalt. «Außerdem sollten doch gerade Sie den Spruch kennen: Gold gab ich für Eisen.»
Vergeblich versuchte von Zabelsdorff, seine Linke mit dem klobigen goldenen Siegelring unter der Schreibtischplatte verschwinden zu lassen. «Kümmern Sie sich um die Bleischmelze!»,