Nach Verdun. Jan Eik

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Nach Verdun - Jan Eik

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in die Straßenbahn, denn die U-Bahn zwischen dem Gesundbrunnen, dem Alexanderplatz und der Stadt Neukölln, ehemals Rixdorf, existierte bislang nur auf dem Reißbrett. Zwar hatte man, das heißt die AEG, schon 1913 mit ihrem Bau begonnen, nach Beginn des Krieges aber waren die Arbeiten eingestellt worden.

      Als sie im Seifenladen ankamen, lag Dorothea Röddelin dort hinten im Wohnzimmer auf einer Chaiselongue und hatte einen mit kaltem Wasser getränkten Waschlappen auf der Stirn liegen. Galgenberg, der so etwas wie kein Zweiter konnte, sprach ihr das tiefempfundene Beileid aller Kriminalbeamten aus und versprach ihr, dass man alle Kraft aufwenden würde, um den Mörder ihres Mannes zu finden.

      Obwohl ihre Tränen ihn anrührten, hielt sich Kappes Mitleid mit Dorothea Röddelin in Grenzen, denn zu unsympathisch wirkte sie auf ihn. In der Waldemarstraße nannte man Frauen wie sie eine «fette Wachtel». Sicherlich war sie in der Glatzer Straße nicht eben beliebt. Kappe konnte sich lebhaft vorstellen, was die Leute über sie sagten: «Die ist volljefressen, und wir hungan.» –

      «Klar, die frisst uns allet weg, die kriegt den Schlund ja nie voll jenug.» - «Ihr Oller bescheißt uns beim Abwiegen und zweigt von allet, watta jeliefert bekommt, für seine Olle wat ab, damit die dick und fett wird.»

      Aber beim Gespräch mit ihr durfte er sich auf keinen Fall von seinen Gefühlen leiten lassen, und um dem entgegenzusteuern, war er besonders freundlich.

      «Wir können Ihren Schmerz verstehen, Frau Röddelin, und wollen nicht alles wieder aufrühren, was gestern passiert ist, aber vielleicht haben Sie etwas gesehen, was uns weiterbringt … wer der Täter gewesen sein könnte?»

      «Wer es war?» Die Röddelin richtete sich auf und nahm den Waschlappen von der Stirn. «Na, sicher dieser Lork, der vorher durchs Schaufenster reingeguckt hat.»

      «Lork», wiederholte Kappe und schrieb das in sein Notizbuch. «Und kennen Sie auch seinen Vornamen?»

      Dorothea Röddelin sah ihn böse an. «Sie kommen wohl nicht aus Schlesien, wie?»

      «Nein, aus der Mark Brandenburg.»

      «Ein Lork ist ein Miststück», belehrte ihn die Röddelin keuchend. «Also … Ich gehe in den Laden, um meinem Mann zu sagen, dass gleich Feierabend ist. Da sehe ich draußen einen Kerl stehen und reingucken. Ganz neugierig, die Nase fast an die Scheibe gepresst. Als er mich sieht, geht er weiter. So eine Visage, wie der gehabt hat … So richtig wie ein Neandertaler hat er ausgesehen. Und in der Hand hat er auch was gehalten. Ich habe gedacht, das ist ein Ball oder ein großer Apfel, aber das muss die Handgranate gewesen sein. Ich bin dann in die Küche, um Kließla zu machen, weil mein Mann ganz nerrsch nach Klößen ist, da knallt es draußen und …» Wieder brach sie in Tränen aus.

      Kappe ließ ihr Zeit, sich wieder zu fangen. «Dieser Mann, der kurz vor Ladenschluss vor Ihrem Schaufenster gestanden hat, den kennen Sie also?»

      «Ja, das ist einer vonne Kommunisten, die uns alle abschaffen wollen, ein ganz übler Bursche. Den hätten Sie schon längst ins Gefängnis stecken sollen!»

      «Den Namen kennen Sie aber nicht?», fragte Galgenberg.

      «Doch, natürlich kenne ich den: Ernst Bergmann heißt der. Der hat schon letzten Oktober Morddrohungen gegen meinen Mann ausgestoßen, ich kann Ihnen sagen!»

      Kappe erinnerte sich an die sogenannten Lichtenberger Butterkrawalle, die sich am 16. Oktober 1915 bis zum Wochenmarkt am Boxhagener Platz ausgebreitet hatten. Was die Frau sagte, klang also plausibel.

      Gott sei Dank, sie hatten eine heiße Spur.

      IN BERLIN herrschte zwar Ende April 1916 noch keine Anarchie, aber zunehmend das, was mit einem Begriff des französischen Soziologen Émile Durkheim als Anomie bezeichnet wird, das heißt, die deutsche Gesellschaft zeigte sich in einem Zustand, in dem die traditionellen Werte keine Autorität mehr besaßen, neue Ideale, Ziele und Normen aber noch nicht an ihre Stelle getreten waren. Eine für alle verbindliche Ordnung existierte nicht mehr, wenn sie denn seit 1848 je existiert hatte.

      Am 23. Februar 1915 war im Bereich der «Brotkartengemeinschaft für Groß-Berlin» die tägliche Ration auf 225 Gramm Mehl festgelegt worden, und die Ernährungslage wurde immer schlechter. Schon wurde die Einrichtung von Großküchen erwogen. Kein Wunder, dass unter diesen Umständen erst das Essen kam und dann die Moral - und ein Mann wie der Handgranatenmörder überall Unterschlupf finden konnte. Wer im Verdacht stand, einen Schmarotzer wie Erich Röddelin aus dem Verkehr gezogen zu haben, konnte mit der klammheimlichen Freude vieler rechnen.

      So waren bereits über sechs Wochen vergangen, ohne dass die Mordermittler in der Sache Röddelin irgendein Ergebnis vorweisen konnten. Nach dem Anarchisten Ernst Bergmann, dem mutmaßlichen Täter, war vergeblich gefahndet worden. Sein Vorstrafenregister war beachtlich. Zumeist hatte er wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt gesessen, aber auch, weil er in die Fabriken und Villen von Unternehmern eingedrungen war und dort einigen Schaden angerichtet hatte. Einen Fabrikanten hatte er so verprügelt, dass der mit einer Gehirnerschütterung und mehreren Rippenbrüchen ins Krankenhaus gekommen war. Der Richter hatte Bergmann eine Neigung zum Jähzorn und zum blinden Hass unterstellt.

      Zuletzt war Bergmann in der Holteistraße polizeilich gemeldet gewesen, also ganz in der Nähe des Röddelinschen Kolonialwarenladens, dort aber am 29. Februar ausgezogen, ohne sich anderswo wieder anzumelden. Seiner Wirtin hatte Bergmann gesagt, er würde zu einem Freund in eine Laube ziehen. Da es unmöglich war, jede der zig Berliner Laubenkolonien zu durchkämmen, waren sie in der Mordkommission am Alexanderplatz gezwungen, abzuwarten und zu hoffen, dass der Mann nicht ein zweites Mal zuschlug. Blieb nur der zynische Trost, wie ihn Galgenberg formulierte: «Wer in Verdun einen anderen mit ’ner Handgranate ins Jenseits geschickt hat, der wird ja auch nie zur Verantwortung gezogen werden.»

      «Und kriegt sogar noch ’n Orden umgehängt», fügte Kappe hinzu.

      Galgenberg hatte das Berliner Tageblatt vor sich ausgebreitet und referierte, was sich an den verschiedenen Fronten getan hatte.

      « Tag und Nacht Artilleriekämpfe um Verdun. Französische Gräben links der Maas genommen. Ein englisches U-Boot versenkt. Ein russisches Linienschiff mit Bomben belegt. Nichts Neues an den k. u. k.-Fronten. »

      In diesem Moment erschien Waldemar von Canow in der Tür, er hatte die letzten Worte mitbekommen.

      «Das ist ja wie bei Ihnen, meine Herren: Nichts Neues an der Front, was den Handgranatenmörder betrifft!», rief er.

      «Manchmal ist eben jede Kunst vergeblich», sagte Kappe. «Bei Röddelin war es die ärztliche, bei uns ist es die kriminologische. Bergmann ist und bleibt abgetaucht. In Wendisch Rietz wäre er ja aufzustöbern, nicht aber in Berlin. Zumal wir immer weniger Männer haben.»

      «Das weiß ich selber!», fauchte von Canow ihn an. «Aber ein guter Kriminaler hat eben überall seine Informanten.»

      «Die habe ich auch», sagte Galgenberg. «Aber von denen ist noch nichts gekommen. Man müsste mal eine kleine Belohnung aussetzen: zwei Brote und ein Pfund Butter. Dafür tut doch heute jeder alles.»

      «Galgenberg, unterlassen Sie Bemerkungen wie diese!» Galgenberg nickte und stand auf, um sich zur Toilette zu begeben. «Jut, dann muss ick ebent wat anderet unter mir lassen.» Galgenberg konnte sich einen solchen Ton erlauben, denn sein Wissen um die Dinge, erworben in langen Dienstjahren, machte ihn unangreifbar. Außerdem war er kein Sozi, sondern hing deutschnationalen und monarchistischen Werten an und hatte deshalb

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